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Brody Neuenschwander bei einer Veranstaltung im Diözesanmuseum, Dezember 2019

Eine Reise zu den Ursprüngen der Schrift mit dem Star-Kalligraphen Brody Neuenschwander

Brody Neuenschwander in der Veranstaltung “Word History” im Diözesanmuseum, 9. Dezember 2019; Foto: Diözesanmuseum Paderborn

„In China galt das Schreiben als große Kunst, die die mächtigen Mandarine beherrschten und kultivierten. Die Kalligraphie blieb den gebildeten, hochangesehenen, kaiserlichen Beamten, den Richtern und Gelehrten vorbehalten. Wenn sie ihre Examen ablegten, war Kalligraphie das wichtigste Fach. Die Art wie jemand schrieb, zeigte, ob der Mensch ehrlich, streng, faul oder fleißig war. In Europa dagegen waren es bis zum 12. Jahrhundert die (unbezahlten) Mönche, die das gesprochene Wort verschriftlichten. An den Höfen und in den Städten gab es professionelle Schreiber. Sie hatten aber keine hohe Stellung in der Gesellschaft. Die Adligen und Mächtigen des frühen Mittelalters beherrschten das Schreiben nicht.“ Auf anschauliche Weise bringt Brody Neuenschwander dem Publikum bei seinem Vortrag im Diözesanmuseum die kulturellen Unterschiede und die Bedeutung der Schriftkunst im Westen und im Osten nahe.

Als ein Buch so viel kostete wie ein Haus

Der aus Amerika stammende Künstler lebt und arbeitet seit vielen Jahren in Brügge. Die kleine Stadt in Westflandern war und ist eine Stadt der Bücher und der Kalligrafie. Im Mittelalter war sie ein wichtiges Zentrum der europäischen Buchproduktion. „Hier kostete im 14./15. Jahrhundert ein Buch so viel wie ein stattliches Haus“, erzählt Neuenschwander. Etwa 150 Kühe mussten ihr Leben lassen, damit genügend Pergament für eine Bibel produziert werden konnte. Ein exklusives Gut. Anhand von vielen Beispielen wird deutlich, wie aufwändig nicht nur das Schreiben, sondern auch die Produktion der unterschiedlichen Materialien war — überall auf der Welt.

Auf den Spuren der Schriftkultur

Seit Jahrzehnten ist Brody Neuenschwander international tätig, und der renommierte Kalligraph hat in den letzten zehn Jahren eine Vielzahl von Projekten mit dem Diözesanmuseum realisiert. Zurzeit arbeitet er im Auftrag von arte und BBC an einem Film über die Entstehung der Schriftkultur, und so wurde sein Vortrag mit dem Titel „Word History“ zu einer spannenden Zeit- und Weltreise, die eindrücklich zeigte, welche Macht dem geschriebenen, gedruckten Wort zukam.

Kalligraphie von Brody Neuenschwander. entstanden beim Vortrag im Diözesanmuseum Paderborn, Dezember 2019
Kalligraphie von Brody Neuenschwander. entstanden beim Vortrag im Diözesanmuseum Paderborn, Dezember 2019

Vom „Wischen“ zum kreativen Wort-Bild

Gerade in unserem Zeitalter des „Wischens und Tippens“ scheint das „schöne Schreiben“ mit der Hand immer beliebter zu werden. Das zeigt sich auch immer wieder bei den Schreib-Workshops im Museum, die in kürzester Zeit ausgebucht sind. Was macht die Faszination der Kalligraphie aus?

„Die Kalligraphie, die historische, grafische Wortkunst ist eigentlich von allen Künsten die vielseitigste. Sie ist ein Grenzgebiet, ist Wort und Bild zusammen“, erklärt Brody Neuenschwander. Zudem könne jeder schreiben, also etwas mit einem Stift zu Papier bringen, es gäbe keine feste Grenze zwischen Alltagsschrift und Kalligraphie. Aber natürlich ist es auch das Exotische, das Geheimnisvolle und die besondere Ästhetik gerade fremder Schriftzeichen, die die Menschen heute fasziniert. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Street-Art mit ihren kreativen Wortbildern.

Die Schrift, der Druck und die Macht

Neun Länder hat Brody Neuenschwander in den vergangenen eineinhalb Jahren auf der Suche nach den Ursprüngen der Schrift bereist. „In unserer Kultur ist Schrift funktional, regelmäßig, geometrisch streng“, sagt er, ganz anders als im arabischen Kulturkreis oder in China. Für die Verbreitung von Wissen und für politische Zwecke hatte die Beschränkung auf die 26 Buchstaben der lateinischen Schrift große Vorteile: „Schrift hat mehr Einfluss auf unsere Kulturgeschichte gehabt, als wir denken“ so Neuenschwander. „Zum Beispiel haben die Chinesen immer gedruckt, zuerst mit Holzblöcken und schon 150 Jahre vor Guttenberg mit beweglichen Zeichen. Allerdings hatten sie nie eine moderne, industrielle Druckproduktion, denn sie haben 100.000de Schriftzeichen, und es waren Gänge voller Druckplatten nötig. Es war also praktisch nicht möglich, schnell zu reagieren. Gutenberg war allein, und sein Verfahren hat die ganze Welt verändert. Es waren die einfachen Buchstaben, die das ermöglicht haben. Sie passten in einen Setzkasten von vielleicht 80 x 40 Zentimetern. Ein Mann allein konnte ein Blatt Text setzen. Wir wissen, was das bedeutet hat, als Luther seine Thesen verbreitete.“ Das einfache lateinische Alphabet ist die Schöpfung einer Kultur, in der Schrift vor allem eine praktische Sache war. In China dagegen hat sich eine sehr elaborierte Kunstform entwickelt, auch deshalb ist die chinesische Schrift nicht einfach zu drucken.

Im Grenzgebiet zwischen Text und Kunst

"Goldener Saal", Kalligraphie von Brody Neuenschwander in der Ausstellungsgestaltung: „Gehorsam“ Eine Installation in 15 Räumen von Saskia Boddeke & Peter Greenaway, 2015 im Jüdischen Museum Berlin
“Goldener Saal”, Kalligraphie von Brody Neuenschwander in der Ausstellungsgestaltung: „Gehorsam“ – eine Installation in 15 Räumen von Saskia Boddeke & Peter Greenaway, 2015 im Jüdischen Museum Berlin

„In allen Kulturen, in denen es wirklich eine Kalligraphie gibt — wie China, Japan, der arabischen Welt, den ost- und südslawischen Ländern Europas und Asiens mit ihrer kyrillischen Schrift – gibt es diese große und alte Tradition der Schriftkunst. Die Funktion und der gesellschaftliche Stellenwert der Kalligraphie sind in all diesen Kulturen sehr unterschiedlich, aber immer bewegt sie sich im Grenzgebiet zwischen Wort und Bild — dort, wo das Wort, wo der Klang eine visuelle Form bekommt“, sagt Brody Neuenschwander.

Und wann wurde in seiner Arbeit das kunstvoll gestaltete Wort-Bild zur (zeitgenössischen) Kunst? „Ich musste für den Peter Greenaway-Film „Prospero’s Books“ live eine Handschrift von Shakespeare umsetzen. Wir haben von Shakespeare sehr wenig, deshalb musste ich andere Handschriften seiner Zeit studieren und habe daraus eine lebendige Schrift entwickelt, die aus dem späten 16./17. Jahrhundert stammen könnte. Vor der Kamera haben wir dann aber gesehen, das reicht nicht aus. Es musste dramatischer werden, meine Feder musste zum Schauspieler werden, und sie musste die Tusche mit Emotion, Bewegung, Spannung und Dramatik aufs Papier bringen. Dann erst wurde es spannend. Das war für mich der erste Schritt, der zweite war es, meine eigenen Worte zu schreiben. Worte, die in meinen Kopf hinein springen, es ist eine automatische Schrift, eine Art ‚Automatic Writing‘. Es geht quasi eine Tür in mir auf, und es kommen Gedanken, die auf keine andere Weise herauskommen können. So entsteht Textkunst, für die es überhaupt keine Vorlagen gibt.“

Die Digitalisierung eröffnet völlig neue Möglichkeiten

In Zeiten der Digitalisierung hat sich die Bedeutung von Schrift und Druck verändert. Welche Rolle spielen die digitalen Möglichkeiten für Brody Neuenschwander? „Eigentlich hat die digitale Technologie sogar meine Karriere befördert“ sagt er. „Ich arbeite sehr viel mit dem Computer. Ich mag die Stahlfeder, den Gänsekiel, den Pinsel … man kann damit auf Papier, Leinwand, Pergament, Wänden und auch auf Körpern arbeiten. Aber wenn ich zum Beispiel mit Metall oder Textil arbeiten will, brauche ich die digitale Technik. Dann entwickele ich etwas, was mit dem Laser ausgeschnitten oder mit einer digitalen Webmaschine realisiert wird. Durch die digitalen Mittel kann ich alle Materialien nutzen, die es gibt. Das ist unglaublich gut für mich und eröffnet ganz viele Möglichkeiten.“

 

Brody Neuenschwander während einer Presse-Vorführung seiner Text-Kunst zur Meinwerk-Ausstellung in Paderborn und zur Performance "a Brush with Silence"
Brody Neuenschwander während einer Presse-Vorführung seiner Text-Kunst zur Meinwerk-Ausstellung in Paderborn und zur Performance “a Brush with Silence”; Foto: Diözesanmuseum Paderborn/Noltenhans

Brody Neuenschwander zählt zu den bedeutendsten Schriftkünstlern der Gegenwart. Geboren wurde er 1958 in Houston/Texas. Er studierte an der Princeton University Kunstgeschichte und promovierte am Courtauld Institute in London. Anschließend arbeitete er ein Jahr lang als Assistent des Kalligraphen Donald Jackson. Anfang der 1990er-Jahre begann seine Zusammenarbeit mit dem britischen Filmregisseur und Experimentalkünstler Peter Greenaway und eine intensive Auseinandersetzung mit zentralen Fragen zur Kunst der Kalligraphie. Heute lässt Neuenschwanders Werk die gängigen Definitionen der Kalligraphie weit hinter sich.

Zu seinen Auftraggebern zählen u.a. das Rijksmuseum Amsterdam und das Jüdische Museum Berlin. Zusammen mit dem Diözesanmuseum Paderborn hat er eine Vielzahl an Projekten umgesetzt, darunter die Kunstaktion A brush with silence, die eine Nacht lang im Kreuzgang des Paderborner Doms und im Diözesanmuseum stattfand. 2018 gestaltete er die Zier der neuen Glocken des Paderborner Doms.

Brody Neuenschwander lebt gemeinsam mit seiner Frau in Belgien.

 

Einen ersten Blick auf unser spannendes Begleitprogramm zur kommenden Rubens-Ausstellung gibt’s hier:

In den kommenden Wochen wird das Angebot erweitert. We will baRock you!

Mo. 9. Dezember 2019 | 19 Uhr

Kalligraph Brody Neuenschwander

Der in Brügge/Belgien lebende amerikanische Künstler Brody Neuenschwander zählt zu den innovativsten Kalligraphen der Gegenwart. Er arbeitet sowohl eigenständig als auch in Gemeinschaftsprojekten, etwa mit Peter Greenaway und Saskia Boddeke. Auch für unser Diözesanmuseum hat er bereits zahlreiche Projekte realisiert.

Brody Neuenschwander präsentiert Ausschnitte seines neuen Films „Word History“. Auf der Suche nach den Ursprüngen der Schrift bereiste er mit Kalligraphen unterschiedlichster Traditionen und Filmemachern die ganze Welt. Außerdem zeigt er eindrucksvoll, wie er Schrift als künstlerisches Ausdrucksmittel nutzt.

Eintritt 5 €

Do. 5. Dezember 2019 | 19 Uhr

Willi Hagemeier. Foto: Harald Morsch

Über 20 Jahre war der im vergangenen Jahr verstorbene Schauspieler, Synchronsprecher und Wort-Künstler Willi Hagemeier dem Diözesanmuseum verbunden. Ob als grantelnder Gregor VII. oder als von seinen Romreisen berichtender Goethe, ob als angelsächsischer Prinz oder isländischer Sagenerzähler – durch seinen eindringlichen und wandlungsfähigen Vortrag wurden die Ausstellungsbesucher stets ganz unmittelbar in die Ausstellungswelten hineingezogen. Der Abend wird Texte und Tonmittschnitte Hagemeiers für das Diözesanmuseum zu Gehör bringen. In ganz eigene musikalische Klangwelten entführen Robert Kusiolek (Akkordeon) und Elena Chekanova (Live Elektronik).

Eintritt frei

Willi Hagemeier liest bei der Museumsnacht 2011 im Diözesanmuseum
Robert Kusiolek und Elena Chekanova
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