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Josef Rikus – Blog Nr. 2

Es begann wie ein Krimi. Ein anonymer Anrufer meldete sich im Diözesanmusem, um den Wissenschaftler der Rikus-Forschungsstelle zu sprechen. Ich war nicht im Haus. Die Sekretärin bat ihn, seinen Namen oder wenigstens seine unterdrückte Telefonnummer zu nennen, damit ich zurückrufen könne. Mehrmals sicherte sie zu, alles vertraulich zu behandeln. „Nein, nein!“ Er beharrte darauf, anonym zu bleiben. Auch behielt er Stillschweigen über sein Anliegen und beendete das Gespräch. Der Vorgang wiederholte sich. Mehrmals vergeblich.

Nach gut drei Wochen hatte er (oder ich?) Glück und wir kamen ins Gespräch. Er fragte nach meiner Arbeit, dem Werkverzeichnis zu Josef Rikus (1923-1989) und ob ich denn schon die Freiplastik vor der Schule in Horn-Bad Meinberg auf der Liste habe. Seine Stimme klang ein wenig außer Atem. Er war wohl zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs.

„Ja sicher“, sagte ich und holte Luft für einige lobende Worte über dieses Objekt: „Eine wichtige Arbeit im Oeuvre von Rikus, weil sie gestalterisch die Vorstufe zur denkmalgeschützten Kirche in Köln [Abb.3] darstellt und die Skulptur…“

„Wollen die abreißen!“, unterbrach mich die kurzatmig klingende Stimme.

„Ach, das wusste ich nicht. Woher haben Sie denn die Information?“

„Kann ich nicht sagen.“

„Und Ihren Namen wollen Sie mir auch nicht verraten, Herr…?“

A u f g e l e g t.

Abb. 1 Freiplastik an der Schule in Horn-Bad Meinberg. 1966

Ich nahm daraufhin Kontakt zu dem Bauamt in Horn-Bad Meinberg auf. Sie bestätigten mir in gewisser Weise die Vermutung des Anonymus. Es gebe solche Überlegungen, ein Antrag sei in Vorbereitung, doch würde der geplante „Bildersturm“ gewiss nicht vor der anstehenden Kommunalwahl im Herbst 2020 in Angriff genommen werden. Des Weiteren erfuhr ich, dass das gefährdete Kunstwerk im Volksmund den wenig schmeichelhaften Namen „Lehrergalgen“ hat.

Ich schrieb einen mehrseitigen Brandbrief an den Bürgermeister und den Rat der Stadt, um sie von der Bedeutung des Künstlers und dieser Skulptur zu überzeugen. Das Denkmalamt wurde eingeschaltet. Die nächste Ratssitzung, in der das „heiße Eisen“ angefasst werden sollte, war für den Januar anberaumt.

 

Abb. 2 Freiplastik an der Schule in Horn-Bad Meinberg. 1966

Worum geht es in Horn-Bad Meinberg eigentlich?

 

1966 schuf Josef Rikus dort eine große Freiplastik aus Beton für den Neubau der Realschule (heute Sekundarschule). Die Schule wurde am Hang oberhalb der Stadt als u-förmiges Gebäudeensemble aus ein- und mehrgeschossigen Flachbauten errichtet. Die Anlage öffnet sich zum Tal hin und umschließt das in mehreren Ebenen abgestufte Schulhofgelände von oben wie eine eckige Klammer. Dieser besonderen Konstellation der Gebäude und der Formation des Geländes trägt der Künstler mit seiner Skulptur Rechnung. Als Standort wählte er die Mitte des Schulhofs, wo eine lange Wand aus brettergeschaltem Beton die Stufung zur nächst höheren Ebene markiert. Rikus lässt die Freiplastik auf beiden Ebenen fußen und verklammert sie so mit den beiden Plateaus und der Betonwand. Darüber erhebt sich wie ein Wahrzeichen die vom Tal aus sichtbare Skulptur.

Im Nachlass des Bildhauers Josef Rikus finden sich mehrere Briefe, in denen er den Auftraggebern seine Projekte für den öffentlichen Raum vorstellt. Bei allem Unterschied in der Aufgabenstellung verfolgen doch all seine Konzepte das gleiche Ziel: Immer geht es ihm um das Verhältnis des Kunstwerks zum vorgesehenen Standort. Seine „Zutat“ wirkt deshalb nie als Fremdkörper, sondern schafft ein ausgewogenes Ensemble. So auch in Horn-Bad Meinberg.

Brutalismus!

Gefährlich oder gefährdet?

 

Ab dem Ende der 1950er Jahre arbeitete der bis dato als Holz- und Steinbildhauer tätige Künstler immer häufiger an Objekten, die im Gussverfahren hergestellt wurden. Dafür entpflichtete er den Beton von seiner ursprünglichen Aufgabe, auf den Baustellen nur als Fundament, Fußboden, Wand oder Decke zu dienen, und machte ihn zu (s)einem gestalterischen Element.

Die Architektur dieser Zeit war – wie die Schule in Horn-Bad Meinberg – vom Brutalismus geprägt. BRUTALISMUS, zugegeben eine unglückliche Bezeichnung für einen Stil der Moderne, der seinen schlechten Ruf nicht zuletzt dem Umstand verdankt, dass viele dabei sofort an „brutal“ im Sinne von „grausam“ denken. Von diesem unverdienten Ruf konnte sich der Stilbegriff bis heute nicht befreien. Seinen Ursprung hat der Brutalismus im französischen beton brut (‚roher Beton’). Er bezeichnet Gebäude oder skulpturale Großformen mit konsequent roh belassenen Baumaterialien und einer betont ablesbaren Konstruktion aus einfachen geometrischen Formen.

Abb. 3 Kirche der Kath. Hochschulgemeinde Köln. 1968–72

Hierzulande entstanden die so beschaffenen grauen Riesen vor allem in den 1960er und 70er Jahren. Nur wenige haben überlebt. Mittlerweile schenkt man diesem lange Zeit ungeliebten Kind der Moderne wieder mehr Beachtung. Das Architekturmuseum in Frankfurt widmete dem Brutalismus 2017/18 eine große Ausstellung, verbunden mit der Botschaft, wenigstens einige Repräsentanten dieser wichtigen Architekturepoche zu retten. Der Hilferuf kam vielerorts zu spät. Mittlerweile gelten rohe Betonwände wieder als chic. So ändern sich Zeiten und Geschmack.

Abb. 4 Schulgelände in Horn-Bad Meinberg. 2021

Zurück zum Tatort Horn-Bad Meinberg: Schule und Kunstwerk sind in die Jahre gekommen und sanierungsbedürftig. Das Gebäude hat durch die nachträglich aufgesattelten schrägen Dachflächen einen Teil seiner kubisch prägnanten Form eingebüßt, doch die von der zentralen Architekturplastik ausgehende Wirkung bleibt. Hier bündeln und verdichten sich die Formen der umgebenden Architektur und des gestuften Geländes, das ihm hierfür die Bühne bietet.

Wollte man nun diese Skulptur entfernen, so nähme man der gesamten Anlage ihre Mitte und der Schule ihr Wahrzeichen. Die Ausgewogenheit des Ensembles, das sich erst durch die hochragende Skulptur in seinem Zentrum zu einem schlüssigen Ganzen vervollständigt, wäre aus dem Gleichgewicht gebracht.

Unter Jägern gilt:

Auf aussterbende Tierarten darf nicht geschossen werden!

 

Am 9. Dezember 2021 fand der Rat der Stadt zusammen, um über Abriss oder Fortbestand des Kunstwerks zu befinden. Das Denkmalamt hatte die Freiplastik schon zum Abbruch freigegeben, die Hoffnung war geschwunden. Doch ließen sich die Stadtväter in Horn-Bad Meinberg nicht beirren. Mit eindeutiger Mehrheit entschied man sich für den Erhalt des Kunstwerks. Vielleicht klangen auch die letzten Sätze des Brandbriefs noch nach, als sie zur Abstimmung kamen.

„Die Kunst im öffentlichen Raum – und da ist die bedeutende Rikus-Skulptur in Horn-Bad Meinberg nur ein Beispiel von vielen in unserem Land – ist ein hohes Kulturgut und ein Geschenk an nachfolgende Generationen. Wir sollten dieses Erbe dankbar annehmen und uns verpflichtet fühlen, es zu achten, zu pflegen und weiterzugeben. In diesem Fall liegt es nun im Ermessen der Stadt Horn-Bad Meinberg, ob wir mit dem Erbe verantwortungsbewusst umgehen.“

Eine Geschichte mit Happy End. Dem Anonymus und den weisen Stadtvätern sei Dank!

 

Szenenwechsel

Tatort Arnsberg-Neheim, Rathaus

 

Gleich vorweg: Diese Geschichte geht nicht gut aus. Alle Rettungsversuche, die drohende Pulverisierung des Kunstwerks abzuwenden, blieben erfolglos. Im Januar 2022 haben die Abbrucharbeiten am Rathaus begonnen.

Deshalb an dieser Stelle eine Warnung: Wer weiter liest wird traurig werden über diesen Verlust. Gleichwohl hier ein letzter Blick auf das, was vielleicht morgen schon Geschichte sein wird.

1966 schuf Josef Rikus im Sitzungssaal des Rathausneubaus eine großartige Wandgestaltung – künstlerisch wie räumlich. Das Thema war gegeben: Die Skulptur sollte ein Sinnbild für das Zusammenwachsen der beiden Stadtteile Neheim und Hüsten sein, die 1941 zur Stadt Neheim-Hüsten zusammengeschlossen wurden.

Der Bildhauer wählte das Motiv zweier Bäume, deren Kronen sich zu einem Blätterdach vereinen. Für die gestalterische Umsetzung war die Eingangsseite des Ratssaals vorgesehen.

Zu beiden Seiten des Eingangs wachsen hier abstrahierte Bäume empor. Die flankierenden Stämme gründen als kantige Pfeiler unvermittelt auf dem Boden. Sie stehen frei vor der Wand und verzweigen sich etwa in Türhöhe zu einem breit entfalteten Astwerk, das sich als lichtes Gefüge aus flächigen Betonelementen über weite Teile der Wand erstreckt. Über der Türöffnung wachsen die Baumkronen zu einer geschlossenen Rahmung zusammen und bilden ein schirmendes Dach, das den Eingangsbereich stufig überwölbt. Wer den Saal betritt oder verlässt, geht unter den vereinten Bäumen, den Sinnbildern für Neheim und Hüsten, hindurch.

Abb. 5 Wandgestaltung im Rathaus Arnsberg-Neheim, Sitzungssaal. 1967/68.
Abb. 6 Betrachtet man die Wandgestaltung im Sitzungssaal isoliert – ohne die Decke und den Fußboden, die Rikus beide nicht zu verantworten hatte und die, ähnlich einem karierten Hemd zu gestreifter Hose ein Zuviel an unruhiger Textur bieten – , dann erscheint sein Kunstwerk in einem sehr viel versöhnlicherem Licht.

Das Astwerk aus verblockten Betonscheiben rankt in ausgewogener Verteilung seiner Massen mehr in die Breite denn in die Höhe, tastet sich mit mäanderndem Kantenverlauf nah an die gut 5 Meter hohe Decke heran, berührt sie aber nicht. Vergleichbar dem Wuchs von Spalierbäumen, denen die gärtnerische Hand lenkend die Richtung weist, begleiten die Baumkronen auf schmaler Bühne den lang gestreckten Raum. Hinter dem vielschichtig angelegten Astwerk sieht man auf dem Untergrund der Wand die Darstellung der Ruhr, deren schlängelnder Flusslauf die beiden Stadtteile miteinander verbindet. Hier symbolhaft wiedergegeben auf fünf versetzt angeordneten schmalen Tafeln aus blauem Glasmosaik.

Abb. 7 Türgriff an der Außenseite des Sitzungssaals, 1967/68

Kontrastierend zu den kantig geraden Formen der Wandgestaltung entwarf Rikus für die zweiflügelige Eingangstür gerundete Bronzegriffe in organisch weicher Form. Auch sie nehmen Bezug auf die lokalen Gegebenheiten. Dargestellt ist der so genannte „Trauring“, ein großer Kreisverkehr, dem der Volksmund diesen Namen gab, weil er das Bindeglied für den Autoverkehr zwischen den Stadtteilen war. Von ihm zweigten die großen Ausfallstraßen und auch der Weg zum neuen Rathaus ab.

Tür und Wandgestaltung bilden ein Ensemble, das sinnbildhaft ein Stück Stadtgeschichte erzählt. Man darf es ein Gesamtkunstwerk nennen.

Rikus schuf hier im Grunde eine nahezu freistehende Plastik, die mit der Wand als Hintergrund nur an einigen Stellen – teils nur durch schmale Stege – verbunden ist, was allein statisch und gusstechnisch eine meisterhafte Leistung darstellt.

In der Frontalsicht erinnern die abstrahierten Baumgebilde an Motive der expressionistischen Malerei, mit breiten Pinselhieben auf die Leinwand gebracht. Der Bildhauer aber gibt ihnen eine dritte Dimension. Trotz der gebotenen Einschränkung bei der Ausdehnung in den Raum entfaltet Rikus hier auf schmaler Bühne ein vielschichtiges Gebilde von erstaunlicher Formenkomplexität und Tiefe.

Wie mit dem starken Zoomobjektiv einer Kamera fotografiert, wird das räumliche Hintereinander auf kurze Distanz zusammengezogen. Geometrische Formen verschachteln sich als winklig abknickende Betonscheiben in schmalen Schichten neben-, hinter- und ineinander und erzeugen optisch eine Tiefe, die faktisch nicht vorhanden ist. In der Schrägsicht wird es deutlich.

Die vorgezogene Türlaibung vergrößert den Eindruck der Tiefe in die Wand hinein, wobei die Türverkleidung aus Edelstahl das Tageslicht der gegenüberliegenden Fensterwand reflektiert und die Wandöffnung unter den symbolisch vereinten Baumkronen als lichten Durchgang erscheinen lässt.

Das alles wird vielleicht morgen schon Geschichte sein. Was bleibt, sind ein paar Fotos und diese Beschreibung.

Szenenwechsel

Tatort Paderborn

 

Warum in die Ferne schweifen, gibt es nicht direkt vor unserer Tür schon genug Schwund in der Kunst zu beklagen? Die großartige Fensterfront der einstigen Kammerspiele, das schöne Relief „Mädchen mit Pferd“ vom Pelizaeus-Gymnasium führen seit langer Zeit ein Schattendasein in den Depots des städtischen Bauhofs. Dem ebenfalls von Josef Rikus geschaffenen Schieferrelief an der Passage der Stadtverwaltung am Abdinghof wird der Bagger noch in diesem Jahr den Garaus machen. Zugegeben, die Passage ist dunkel und unbehaglich, das Relief schmutzig und grau. Gereinigt und geölt könnte es an anderer Stelle wieder in frischem Glanz erstrahlen.

Abb. 8 Paderborn Kammerspiele. Fassadengestaltung. 1968 (2010 entfernt)
Abb. 9 Paderborn Schieferrelief an der Turnhalle des Pelizaeusgymnasiums. 1954 (2010 entfernt)
Abb. 10 Paderborn Schieferrelief an Stadtverwaltung. 1961 (soll 2022 abgerissen werden)

So manch ein Kunstwerk muss heute um sein Leben bangen wie die gutmütige, reiche Witwe, die im englischen Kriminalroman schon auf den ersten Seiten ums Leben kam. Die Gefahr lauert immer und überall!

Allen Fährnissen zum Trotz werden wir Josef Rikus im Jahr 2023 feiern. Dann wäre er 100 geworden. Er hatte nur 66 Jahre und hinterließ ein enorm großes und vielseitiges Oeuvre. Wir werden es würdigen mit einer Doppelausstellung im Stadt- und Diözesanmuseum.

 

Wir sehen uns

Hans-Ulrich Hillermann

Wie im letzten Rikus-Blog am Ende nochmals unser Aufruf:

Für das Jahr 2023 ist anlässlich des 100. Geburtstags von Josef Rikus eine umfangreiche Publikation mit Werkverzeichnis in Vorbereitung. Neben vielen Hintergrundinformationen werden dort erstmals Fotos aus dem großen Bildarchiv des Künstlers veröffentlicht. Aufnahmen von Wettbewerbsentwürfen, Bilder von Arbeitsprozessen im Atelier und im Freien, professionell im Bild festgehalten von Anneliese Rikus. Die 2020 verstorbene Frau des Künstlers war lebenslange Begleiterin seines Schaffens von seinen Anfängen als Meisterschüler von Karl Knappe 1947 in München bis zu seinem Tod in Paderborn im November 1989. Der dem Erzbischöflichen Diözesanmuseum zur Verfügung gestellte Künstlernachlass ist ein wahrer Glücksfall für die Forschung!

Wer von Josef Rikus ein Werk oder über den Künstler noch interessante Informationen hat, der melde sich bitte – falls noch nicht geschehen – unter der Telefonnummer 05251/1251400 oder per E-Mail an kunstinventarisation@erzbistum-paderborn.de. Wir behandeln Ihre Informationen selbstverständlich vertraulich.

 

Wenn Sie wie der oben erwähnte kurzatmige Herr

lieber anonym bleiben möchten,

ist das auch okay.

Wir gehen jeder Spur nach.

Bildnachweis

Abb. 1, 2, 3, 8, 9, 11: Bildarchiv Rikus
Abb. 5, 6, 7: Hans-Ulrich Hillermann, Coesfeld
Abb. 4, 10: Ansgar Hoffmann, Schlangen

Abb. 11 Porträt des Künstlers. 1960
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