Skip to content

Paderborn feiert Kleinlibori und damit die Rückkehr der 1622 geraubten Reliquien des hl. Liborius nach Paderborn am 31. Oktober 1627.

Wie kann es sein, dass jahrhundertealte Knochen noch heute eine ganze Stadt in Freude versetzen? Wie entwickelte sich die Reliquienverehrung in Paderborn und was genau ist eigentlich eine Reliquientranslation?

Liane Janzen hat sich genau diese Fragen gestellt. Die Studentin der Kunstwissenschaften in Würzburg hat im Sommer ein mehrwöchiges Praktikum im Diözesanmuseum absolviert – in einem Haus, dessen Sammlung zahlreiche Heiligendarstellungen und Reliquiare bewahrt. Ihre Recherchen hat sie in diesem Blogbeitrag zusammengefasst.

Die Anfänge der Reliquienverehrung

In der Antike war im Römischen Reich die Totenverehrung sehr wichtig: An bestimmten Tagen traf sich die Familie und gedachte ihrer Verstorbenen. Die Christen nahmen diese Tradition auf und besuchten die Gräber ihrer hingerichteten Glaubensgeschwister, die als Märtyrer für ihren Glauben gestorben und daher direkt in die göttliche Herrlichkeit aufgenommen worden waren. Unter Kaiser Konstantin I. (270/280 – 337) endete die Christenverfolgung mit dem Toleranzedikt von Mailand 313, und viele der daraufhin errichteten Kirchen wurden über den Gräbern von Märtyrern gebaut (z.B. der Petersdom in Rom über dem Grab des Apostels Petrus). Gab es keine eigenen Heiligengräber, bewahrte man stattdessen – wie auch heute noch – Partikel von Gebeinen der Heiligen unter dem Altar auf. Der Wunsch, den Wunder wirkenden Heiligen auch nach deren Tod nah zu sein, war die Geburtsstunde der Reliquienverehrung.

Mit der Ausbreitung des Christentums und dessen Tolerierung endeten die Christenverfolgungen im Römischen Reich und so nahm auch die Zahl der Märtyrer schlagartig ab. Auf der anderen Seite stieg die Nachfrage nach Heiligenreliquien stetig an. Um dieser Nachfrage nachkommen zu können, billigte man im 8. Jahrhundert die Zerteilung von Heiligengebeinen. Zuvor waren einzelne Teile von sterblichen Überresten der Märtyrer nur dann an verschiedene Kirchen verteilt worden, wenn die Leichname bereits durch die Hinrichtung zertrennt worden waren. Diese geänderte Auffassung im Umgang mit den sterblichen Überresten der Heiligen wurde damit begründet, dass auch in den kleinsten Partikeln die gesamte Wunderkraft der Heiligen enthalten sei. Zudem wurden auch nicht-leibliche Reliquien als vollwertige Reliquien anerkannt, so beispielsweise Gegenstände, die von den Heiligen berührt worden waren, die daher als Berührungs- oder Sekundärreliquien bezeichnet werden. Zu den Märtyrern treten mit dem Ende der Christenverfolgungen die Bekenner hinzu, die durch ihr Leben, jedoch nicht durch einen gewaltsamen Tod ein Zeugnis ihres tiefen Glaubens abgegeben haben. Als erster heiliger Bekenner gilt Bischof Martin von Tours (†397).

Maria, Kilian und Liborius – frühe Reliquienverehrung in Paderborn

Bei der Weihe von Kirchen wurden diese auch dem Schutz bestimmter Heiliger anvertraut. So wurde der erste Dom Paderborns von Papst Leo III. im Jahr 799 den Heiligen Maria und Kilian geweiht. Das Marien-Patrozinium sollte die Zusammengehörigkeit zur universalen christlichen Kirche betonen – Karl der Große höchstpersönlich stiftete Haare der Jungfrau Maria anlässlich der Domweihe. Das Patrozinium des hl. Kilian geht zurück auf die Herkunft der Glaubensboten aus dem mit der Missionierung beauftragten Bistum Würzburg, wo der Heilige bis heute als Frankenapostel und Bistumspatron verehrt wird.

Unter Paderborns zweitem Bischof Badurad (815–862) wurde die Missionierung des ostwestfälischen Raumes weiter vorangetrieben. Damals waren schon viele der hier ansässigen Sachsen getauft, aber es mangelte oft an einem tieferen Verständnis der Grundlagen des christlichen Glaubens. Daher bemühte sich Badurad darum, Reliquien eines Heiligen als lokalen Patron für sein Bistum zu erhalten. Diese Reliquien eines wundervollbringenden Heiligen sollten die Priester darin unterstützen, die Menschen von der Kraft des neuen Glaubens zu überzeugen. 836 wurden die Reliquien des hl. Liborius am Pfingstsonntag feierlich empfangen. Zusätzlich bot ein eigener vollständiger Heiligenleib das Potential für eine neue lokale Identität.

Seit der Übertragung der Gebeine des hl. Liborius im Jahre 836 besteht eine Gebetsverbrüderung mit dem Domkapitel von Le Mans, die als die älteste Städtefreundschaft Europas gilt. Ein Arm des hl. Liborius verblieb in Le Mans, während der Rest des Körpers ab 836 in Paderborn in einem Heiligengrab in der Krypta unter dem Westchor des Domes verehrt wurde. Am Festtag des hl. Liborius, am 23. Juli, wird bis heute in beiden Diözesen an den gemeinsam verehrten Heiligen gedacht.

Reliquienstutuette des hl. Liborius, Westfalen (?), 1. Viertel 14. Jahrhundert

Reliquien als wirtschaftliches und strategisches Mittel

Eine Begleiterscheinung kirchlicher Festtage waren größere Märkte, Jahrmärkte, zu denen Händler über mehrere Tage ihre Waren anboten. Häufig kamen zum Marktprivileg im Laufe der Zeit weitere Rechte wie z. B. die Erlaubnis, eigene Gerichte abzuhalten oder Münzen zu prägen. Solche Privilegien trugen zur Beliebtheit von Städten mit Heiligengräbern bei. Die Kombination von Reliquien und bezeugten Wundern konnte dazu führen, dass Wallfahrtsorte entstanden, zu denen Menschen pilgerten, um gesund zu werden oder um Buße zu tun. Entlang der Wallfahrtsrouten entstanden Kirchen, die besonders beliebten Heiligen geweiht waren. Meistens entstanden an solchen Wallfahrtsorten ganze Sammlungen von Reliquien, die dafür sorgten, dass immer mehr Pilger an diese Orte strömten. Daraus erwuchsen natürlich auch wirtschaftliche Vorteile für die Ortsbewohner und vor allem für die Kirchen und ihre Institutionen.

Dennoch waren es nicht allein wirtschaftliche Motive, die den Reliquienerwerb vorantrieben. Das Prestige, im Besitz von Reliquien zu sein, diese zu stiften oder unter ihrem Schutz zu stehen, waren große Motivatoren. So wurden zum Abschluss von Friedensschlüssen manchmal auch Reliquien verschenkt, um zu unterstreichen, wie ernst man es mit dem Frieden meinte. Ein Armreliquiar des hl. Vitus, der u. a. im Kloster Corvey verehrt wird, wurde 929 von König Heinrich I. an den böhmischen Herzog Wenzel überreicht, als sie Frieden schlossen. Zugleich hatte sich der Böhme bereit erklärt, zum Christentum zu konvertieren. Aber auch zum Abschluss von Verträgen wurden Reliquien verschenkt, um zu garantieren, dass man einander mit Rat, Tat, benötigter Hilfe oder durch Gebete unterstützen würde. Ein geleisteter Eid auf Reliquien sollte ebenfalls die Einhaltung des Versprechens versichern. Man fürchtete sich vor der Strafe der Heiligen, sollte man eidbrüchig werden.

Grete Spuida, Liborius-Wandbehang, Detmold, 1949

Von Le Mans nach Paderborn – die Translation der Gebeine des hl. Liborius

Da Reliquien schon innerhalb der ersten Jahrhunderte sehr begehrt waren, wurden Bestimmungen erlassen, um die Reliquienverteilung zu regeln. Der Handel mit Reliquien war grundsätzlich verboten, wenn er sich auch nicht immer ganz unterbinden ließ. Nur hochrangige Personen wie Päpste, Bischöfe, Kaiser oder Könige konnten die Translationen (feierliche Überführung von Reliquien von einem Ort zum anderen) von Heiligengebeine erlauben und veranlassen.

Bischof Badurad holte von Kaiser Ludwig I. (reg. 814–840) die Erlaubnis ein, Reliquien von einem heiligen Bischof aus Le Mans nach Paderborn bringen zu lassen. 836 machte sich eine Gesandtschaft von Paderborn nach Le Mans auf den Weg. Dort fiel die Wahl auf den hl. Liborius. Er gehörte zu den frühen Bischöfen von Le Mans und lebte im 4. Jh. Angeblich umfasste seine Amtszeit eine Spanne von 49 Jahren. Freundschaftlichen Kontakt gab es während seiner Amtszeit zur benachbarten Bischofsstadt von Tours, wo der hl. Martin (†397) lebte und Wunder wirkte. Die Bischöfe von Le Mans wurden damals außerhalb der Stadt zusammen mit weiteren Geistlichen in der Apostelkirche zur Ruhe gelegt. Als die Paderborner Gesandten kamen, fanden sie dort viele christliche Würdenträger vor, auch die Gebeine der Bischöfe Pavacius und Turibius wurden ausgewählt.

Die Reise der Paderborner Gesandtschaft dauerte vier Wochen und ist gut dokumentiert. Es liegen vier Translationsberichte vor, von denen drei sogar noch aus dem 9. Jh. stammen. Ein Pfau soll der Gesandtschaft voran geflogen sein, was als göttliches Einverständnis für die Translation des hl. Liborius gewertet wurde. Aufgrund dieser Legende wird Liborius auch mit einem Pfau dargestellt. In Italien und Gallien wurden Pfauenfederfächer im Gottesdienst dazu genutzt, um Insekten zu vertreiben. Wahrscheinlich brachten die Gesandten solche Wedel mit und daraus entstand diese Legende. Die Gesandtschaft traf am 28. Mai 836, dem Pfingstsonntag, in Paderborn ein und wurde mit Jubel empfangen. Seit dem 9. Jahrhundert ist die Feier des Hochfestes des heiligen Liborius am 23. Juli für das Bistum Paderborn überliefert. Am ersten Samstag nach dem 23. Juli beginnt bis heute das 9-tägige Libori-Fest mit Kirmes und diversen Attraktionen, bei der sich geistliche und weltliche Programmpunkte abwechseln.

Der Reliquienraub 1622 und der neue Schrein

Um den Gläubigen den Wert der Reliquien zu verdeutlichen, wurden sie in kostbaren Behältnissen aufbewahrt, die Reliquiare heißen. Sie tauchen in unterschiedlichen Größen und Formen auf. Seit dem 11. Jahrhundert wurde es üblich, vollständige Heiligenleiber in hausförmigen Reliquienschreinen zu bergen.

Auch für Paderborn ist für das spätere 11. Jahrhundert ein solcher goldener Heiligenschrein für den – seit 1023 als Schutzpatron des Doms bezeugten – hl. Liborius überliefert. 1622 plünderten Landsknechte des Herzogs Christian von Braunschweig den Paderborner Domschatz und raubten den Reliquienschrein des hl. Liborius. Der evangelische Herzog ließ den Schrein einschmelzen und aus dem Edelmetall Münzen prägen. Auf diesen stand: „Gottes Freundt, der Pfaffen Feindt“ – die sogenannten Pfaffenfeindtaler. Die entführten Liborius-Reliquien kehrten schließlich nach fünfjähriger Odyssee am 25. Oktober 1627 nach Paderborn zurück. An die Rückkehr der Gebeine wird daher bis heute am 25. Oktober mit dem Kleinlibori-Fest gedacht. Der Goldschmied Hans Krako (1587–1648) aus Dringenberg arbeitete von 1625 bis 1627 an der Fertigung eines neuen Reliquienschreins. Dieser wird heute im Diözesanmuseum aufbewahrt.

Schmalseite des Schreins mit Kreuzigungsszene und zwei Pfaffenfeindtalern
Hans Krako, Schrein des hl. Liborius, Dringenberg, 1625-1627

Der Kern des Schreins besteht aus Holz und ist mit vergoldeten Silberdekor beschlagen, hinzu kommen noch einige Elemente aus vergoldeter Bronze. Im Innern ist der Schrein mit Samt ausgeschlagen, um die Reliquien würdig aufzunehmen. Der Aufbau des Schreins ist einer Saalkirche nachempfunden. Dies hat mehrere Gründe, zum einem orientierte sich Hans Krako an älteren Vorbildern, und zum anderen wird die Gemeinde mit einem Haus in der Bibel verglichen. Die zwölf Apostel stehen zusammen mit ihren jeweiligen Attributen als Stützen des Christentums in den Nischen an den Langseiten. Unter den Figuren stehen die Namen der Heiligen wie z. B. der Hl. Petrus mit dem Schlüssel oder der Hl. Andreas mit dem X-förmigen Kreuz (Andreaskreuz). Dabei wurden die Säulen mit den korinthischen Kapitellen und dem Muschelmotiv in den Nischen nach dem aktuellen Geschmack der Spätrenaissance gestaltet.

An der vorderen Giebelseite befindet sich eine Darstellung der Kreuzigung Christi mit vollplastischen Figuren des Gekreuzigten, seiner Mutter Maria und des Apostel Johannes. Die Darstellung der übrigen Szenerie des Kalvarienbergs ist als zartes Relief gestaltet. Im darüber liegenden Giebel ist eine Madonna zu sehen. Auf der rückwärtigen Giebelseite ist eine Inschrift mit den Namen des Stifterehepaars Wilhelm  Westphal und Elisabeth von Loe angebracht. Sie organisierten eine Spendensammlung für die Anschaffung eines neuen Schreins. Das kinderlose Paar erhoffte sich von ihrem frommen Werk die Geburt eines Sohnes, obwohl sie schon im fortgeschrittenen Alter waren. Um an die Vernichtung des Vorgängerschreins zu erinnern, arbeitete der Goldschmied zwei Pfaffenfeindtaler ein. Im Giebelfeld wird Maria von Christus und Gottvater zur Himmelskönigin gekrönt, darüber schwebt die Heiliggeisttaube. Dahinter ist das Wappen der Stifter eingraviert. Die beiden Giebel werden von zwei Kreuzen mit Strahlenkranz bekrönt.

An den Ecken des umlaufenden Gesimses sind die vier Evangelisten mit ihren Symboltieren angebracht, Matthäus mit dem Engel, Markus mit dem Löwen, Lukas mit dem Stier und Johannes mit dem Adler. An den Seiten des Daches sind in runden Medaillons die vier lateinischen Kirchenväter in Relief wiedergegeben. Die Lehren von Augustinus, Ambrosius, Gregor dem Großen und Hieronymus beeinflussten die Theologie für Jahrhunderte bis heute. Die Dachflächen dominieren jedoch zwei Liegefiguren im Bischofsornat: Auf der einen Seite der hl. Kilian, er hält in der rechten Hand einen Palmenzweig und in der linken Hand ein aufgeschlagenes Buch. Auf der anderen Seite ist der hl. Liborius abgebildet. In seinen Händen hält er einen Bischofsstab und ein Buch mit drei Kugeln darauf, die Nieren- oder Gallensteine darstellen sollen. 19 Figuren von Heiligen bevölkern in regelmäßigen Abständen den Dachfirst und die Traufzone. Sie sind ebenfalls bekannte Fürbitter, von denen sich die Gläubigen Beistand erhofften.

Die Zwischenräume sind mit geflügelten Engelsköpfen, aufwändigen Ranken und Blumen gefüllt. Kränze und Bänder setzen einzelne Partien voneinander ab. Hans Krako wendete unterschiedliche Techniken an, um diesen prachtvollen Reliquienschrein herzustellen. Der Aufbau orientiert sich am Vorgängerschrein und an romanischen Schreinen, die sich bis heute im rheinischen Raum erhalten haben. Dabei wurden die traditionellen mit aktuellen Formen kombiniert, was kein ungewöhnliches Vorgehen war. Die alljährlichen Prozessionen zu Großlibori und zu Kleinlibori sind die einzigen Anlässe, an denen der Schrein heutzutage das Museum verlässt. Um die Details in Ruhe betrachten zu können, empfiehlt sich ein Besuch in der Schatzkammer-Ausstellung des Diözesanmuseums außerhalb der Liborius-Feierlichkeiten.

 

Liane Janzen

Literatur- und Quellenhinweise:

  • Günter Beaugrand (Hg.): Sankt Liborius – Schutzpatron im Strom der Zeit. Paderborn 1997
  • De Vry, Volker: Liborius, Brückenbauer Europas. Die mittelalterlichen Viten und Translationsberichte. Mit einem Anhang der Manuscripta Liboriana. Paderborn/München/Wien/Zürich 1997.
  • Heinzelmann, Martin: Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes. Turnhout 1997. S. 17 – 125.
  • Heinzelmann, Martin: Translation. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, S. 947 – 949.
  • Herbers, Klaus: Bemerkungen zu Reliquientranslationen im frühen Mittelalter. In: Mayr, Markus (Hg.): Von Goldenen Gebeinen. Wirtschaft und Reliquien im Mittelalter. Innsbruck 2001, S. 221 – 230.
  • Stiegemann, Christoph / Kroker, Martin / Walter, Wolfgang (Hg.): Credo. Christanisierung Europas im Mittelalter. Band I. Essays. Petersberg
  • Stiegemann, Christoph und Ruhmann, Christiane (Hg.): Credo. Christianisierung Europas im Mittelalter. Band III. Beiträge zur Ausstellung. Paderborn 2017
  • Stiegemann, Christoph (Hg.): Diözesanmuseum Paderborn. Werke in Auswahl. Petersberg 2014.
  • Wenz–Haubfleisch, Annegret: Reliquientranslation und Beziehungsnetz. In: Thumser, Matthias u. a. (Hg.): Studien zur Geschichte des Mittelalters. Stuttgart 2000, S. 100 – 121.
  • www.rdklabor.de https://kurzelinks.de/l3gq (letzter Zugriff 26.10.22)

 

Bildnachweis:

Alle Abbildungen: Diözesanmuseum Paderborn, Foto Ansgar Hoffmann

(Das Titelbild zeigt die Reliquienschau im Tragaltar des Paderborner Doms mit einer Reliquie des hl. Liborius)

An den Anfang scrollen