Skip to content

Einen wunderschönen guten Tag. Ich möchte mich gerne einmal vorstellen: Mein Name ist Adriana Papadopoulou. Ich studiere Germanistische Literaturwissenschaften im Einfach-Master an der Universität Paderborn und darf mein außeruniversitäres Praktikum im Paderborner Diözesanmuseum absolvieren. Der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität habe ich es zu verdanken, dass ich in der diesjährigen Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” hinter die Kulissen blicken darf. So begleite ich nun auch die öffentliche Reihe ,,Dialoge im Museum” mit Blogbeiträgen, in denen ich die gemeinsamen Abende Revue passieren lasse.

Am 16.01.25 führten uns Prof. Dr. Lothar van Laak (Universität Paderborn) und die Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann zum letzten Mal durch die Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike”. Damit fand die Reihe ,,Dialoge im Museum“ ihren – zart in Geschichte und Literatur eingehüllten – Abschluss.

Zu Beginn wurde die Weitergabe von geschichtlichen Ereignissen thematisiert. Das beinhaltete auch die subjektive Wahrnehmung von historischen Fakten, Dingobjekten und Personen. Der zweite Teil des Abends widmete sich der gemeinsamen Auseinandersetzung mit der lyrischen Inszenierung von Raum und Figuren. Sehr schön war, dass die einzelnen Nachfragen und Kommentare der Besuchenden sowohl neue Diskussionsthemen boten als auch auf vergangene Abende rekrutierten.

Gegen Vorstellungen erzählen, um Ideenräume zu öffnen

Was ist dein erster Gedanke bei dem Wort ,,Mittelalter”? Ist es vielleicht ,,dunkel – böse”; ,,rückständiges Zeitalter”; ,,ungewaschene Mönche in kleinen unbeleuchteten Klosterzellen”; ,,chaotische Gesellschaft”? Mit dem Abschluss der hochentwickelten Antike kam also das ,,dunkle Mittelalter”?

Solche negativen Assoziationen haben wir dem Humanismus zu verdanken, der die Vorstellung des Mittelalters als unzivilisiertes Zeitalter prägte. Auffällig ist, dass wir heute noch diese Vorstellungen in unseren Köpfen verwurzelt wiederfinden, obwohl sie nicht der historischen Realität entsprechen. Es ist eine große Herausforderung, gegen einen Diskurs zu erzählen, der seit einigen Jahrhunderten Zeit hatte, sich festzusetzen.

Das Diözesanmuseum griff diesen Umstand auf, indem die Figur des Odysseus zentral in die Sonderausstellung gesetzt wurde. Es entstand ein immersiver Erinnerungsraum, in dem so einige Exponate auf die mythische Gestalt aus dem 9. Jahrhundert verwiesen und mit ihr interagierten. Historisch gesehen ist es jedoch nicht wahrscheinlich, dass die ebenfalls in der Ausstellung thematisierten Saxones zur Zeit des Corveyer Klosters mit dieser Figur in Kontakt gekommen war. Der regionale Bezug macht es hier dennoch unmöglich, die Saxones zu vergessen. Sie hinterließen kaum schriftliche Überreste, besaßen vielmehr eine Kultur der Mündlichkeit. An ihrem Beispiel wird deutlich, dass Geschichte keine fest umschlossene Wundertüte darstellt. Es wird in der Geschichte immer Bereiche geben, die für uns ein Geheimnis bleiben werden. Obwohl beispielsweise die Westfalen des 9. Jahrhunderts Teil der Geschichte des Raumes waren, weiß man heute nicht mehr, wie genau, denn die schriftlichen Überlieferungen fehlen.

Einblick in die Saxones-Ausstellungsabteilung

Ein weiterer wichtiger Aspekt zeigte sich auch anhand des Verweises einer Besucherin auf Odysseus‘ Hund (,,Αργος“, dt. Argos) erinnerte. So wartet in der Odyssee der Hund 20 Jahre auf sein Herrchen und beide erkennen sich trotz unterschiedlicher Gestalt wieder (die Szene lässt sich in Homers ,,Odyssee” im 17. Gesang Vers 290-304 nachlesen. Vgl. Quellen.). Es zeigt das Moment der Anagnorisis (des Wiedererkennens) in einer anderen Wahrnehmungsform. Der Hund stellt eine animalische Zeugenschaft dar, welche die materielle Identität von Odysseus olfaktorisch aufspüren kann. Die Nase eines Hundes kann man schließlich nicht täuschen. Er bewertet Odysseus nicht nach seinem Aussehen oder seinen Handlungen, er macht auch keine Vorwürfe oder klagt an, sondern bleibt der treu ergeben, wartende Diener.

Im Hinblick auf das bereits Gesagte soll deutlich werden, dass Geschichte und Identitäten aus kulturellen Formationen erwachsen können. Wir verändern uns (gegenseitig) und wir werden verändert, aber wir können die Richtung entscheiden, unabhängig davon, wer oder was uns (er)kennt.

Der lyrische Raum und seine Figuren

Der zweite Teil des Abends befasste sich mit Joseph von Eichendorffs ,,Am Strom” (1837) und Robert Walsers ,,Sirene” (1930). Die Entstehungszeit der beiden Gedichte verortet das ältere in die literarische Epoche der Romantik, während Walser zu den Autoren des 20. Jahrhunderts gezählt wird. Inhaltlich befassen sich beide Werke mit der Imagination einer Sirene, wenngleich sie unterschiedliche Strategien anbieten, um diese als weiblich verstandene Figur zu versprachlichen.

Joseph von Eichendorff

Am Strom

(1837)

Der Fluß glitt einsam hin und rauschte
Wie sonst, noch immer, immerfort,
Ich stand am Strand gelehnt und lauschte,
Ach, was ich liebt‘, war lange fort!
Kein Laut, kein Windeshauch, kein Singen
Ging durch den weiten Mittag schwül,
Verträumt die stillen Weiden hingen
Hinab bis in die Wellen kühl.

 

Die waren alle wie Sirenen
Mit feuchtem, langen, grünen Haar,
Und von der alten Zeit voll Sehnen
Sie sangen leis und wunderbar.
Sing‘ Weide, singe, grüne Weide!
Wie Stimmen aus der Liebsten Grab,
Zieht mich Dein heimlich Lied voll Leide
Zum Strom von Wehmuth mit hinab.

Das erste Gedicht ,,Am Strom” beschreibt die Naturerfahrung eines lyrischen Ichs, das emotional geladen während der Naturbetrachtung in eine Imaginationswelt hinübergeht. Die Zuschreibung der Naturphänomene lässt das lyrische Ich männlich erscheinen. Es befindet sich am Strand, lauscht den Geräuschen des Wasser- und Windspiels und beobachtet präzise die Bewegungen der Weide. Diese Faktoren erschaffen in der Vorstellung des Lyrischen Ichs einerseits Sirenen, andererseits ihren Gesang, den es eigentlich nicht hören kann. Wer in dieser inszenierten Stille zuhört, ist wiederum nicht weiter von Bedeutung, da der Versuch unternommen wird, die Stille in der Vorstellungswelt zu füllen. Entscheidend ist, dass die imaginierte Figur und das Lyrische Ich in der Natur sowohl aufgehen als auch sich darin auflösen. Was sagt das über unseren Umgang mit Kultur?

Das zweite Gedicht ,,Sirene” geht nicht von einer gesteigerten Phantasie aus, sondern arbeitet mit sprachlichen Zuschreibungen. Das Lyrische Ich beschreibt hier zunächst einmal die unzeitgemäße Denkhaltung einer überaus schönen weiblichen Figur, die sich in einem modrigen Zimmer aufhält. Die Vorstellung ,,[…] Gott werde ihre Schritte leise lenken” beinhalten, dass eine höhere Instanz das Denken für die weibliche Figur übernehme und ihre weiteren Handlungen steuern könnte. Die intendierte Übergabe von Denken und Handeln kann an dieser Stelle als eine Schwäche verstanden werden. Darin liegt latent die Aufforderung verborgen, diese Grundeinstellung abzulegen und sich um Emanzipation zu bemühen. Der persönliche Rückzugsort abseits der Gesellschaft wird in dem Gedicht als identitätsbrechende Umgebung markiert, da die schöne weibliche Figur neben einer ,,schimmelige[n] Wand” gestellt wird. Die weibliche Figur scheint ganzjährig starr in diesem Raum verankert zu sein, weshalb sie nicht aus den Beschreibungskategorien heraustreten kann. Sie ist daher den einseitigen Attribuierungen der Beobachter ausgesetzt. Darüber hinaus wird die Selbstwahrnehmung der ,,Sirene” und ihrer Gefühlswelt nicht weiter berücksichtigt. Sie müsste neue Strategien und Handlungsweisen entwickeln, um dem Schubladendenken der anderen zu entkommen. Im Grunde führt das Gedicht vor, dass das Potenzial von ,,Kultur” von den Zuschreibungen einer Vielzahl von unbestimmten Betrachter*innen abhängig ist.

Gehabt euch wohl!

Jetzt ist der Moment gekommen, an dem ich mich von Euch verabschieden muss. Seit Oktober durfte ich als Praktikantin an abwechslungsreichen Tages- und Abendprogrammen teilnehmen. Ich traf viele verschiedene Museumsmitarbeiter*innen, die mit ihrem großen Wissen, ihrem motivierten Engagement und ihrem liebevollen Fingerspitzengefühl dem Museum seine Seele verleihen. Obwohl sie sich mit Objekten/Exponaten und historischen Diskursen auseinandersetzen, schauen sie darüber hinaus und versuchen gemeinsam ein Museum zu gestalten, in dem jeder Mensch etwas zum Staunen finden kann. Faktoren wie Alter, Kultur, Herkunft, Sprache, Bildungshintergrund spielen hierbei keine Rolle, da sie die Türen des Diözesanmuseums für alle Menschen gleich öffnen. Es ist sehr inspirierend, den Einsatz und die Geduld der Mitarbeitenden und der Museumsbesucher*innen zu sehen. Sie geben Hoffnung, dass wir gemeinsam als Gesellschaft voneinander lernen und von den Blickwinkeln des anderen profitieren können. Ich denke, wir wachsen dadurch nicht nur im geistigen Sinne, sondern gleichwohl im menschlichen, denn Kultur und Geschichte ist ein Teil unserer Identität. Wir stehen deshalb gleich in der Verantwortung, sie zu bewahren, zu beschützen und weiterzutragen. Aus der „Dialoge im Museum“- Reihe haben wir schließlich auch gelernt, dass jede*r von uns eine (unerforschte)  Geschichte neu schreiben kann. Theoretisch könnten wir alle also die Welt zu einem besseren Ort machen.

Adriana Papadopoulou

Quellenverzeichnis

  • Eichendorff, Joseph v.: Am Strom. In: Mythos Sirenen. Texte von Homer bis Dieter Wellershoff. Hrsg. v. Werner Wunderlich. Stuttgart: Reclam 2007. S. 48.
  • Walser, Robert: Sirenen. In: Mythos Sirenen. Texte von Homer bis Dieter Wellershoff. Hrsg. v. Werner Wunderlich. Stuttgart: Reclam 2007. S. 159.
  • Köhken, Adolf: Perspektivisches Erzählen im homerischen Epos: Die Wiedererkennung Odysseus: Argos. In: Hermes, 131. Jahrg.,H. 4 (2003), S. 385-396.

Internetquellen

Einen wunderschönen guten Tag. Ich möchte mich gerne einmal vorstellen: Mein Name ist Adriana Papadopoulou. Ich studiere Germanistische Literaturwissenschaften im Einfach-Master an der Universität Paderborn und darf mein außeruniversitäres Praktikum im Paderborner Diözesanmuseum absolvieren. Der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität habe ich es zu verdanken, dass ich in der diesjährigen Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” hinter die Kulissen blicken darf. So begleite ich nun auch die öffentliche Reihe ,,Dialoge im Museum” mit Blogbeiträgen, in denen ich die gemeinsamen Abende Revue passieren lasse.

Am 12. Dezember präsentierten die Studierenden der Uni Paderborn den Besuchenden das Resultat ihrer Auseinandersetzung mit der Odysseus-Rezeption. Seit Anfang Oktober hatten sie im Gruppenverband an den Konzepten gearbeitet. Aus den Projektgruppen waren nun vier Stationen entstanden, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten (Literatur, Film, Musical und Plastik/Selfie Point) den dritten Gesprächsabend der „Dialoge im Museum“ bildeten.

Die Studierenden waren sehr wohl darauf bedacht, den Besuchenden nicht nur ihre Ergebnisse darzulegen, sondern sie auch in eine Reflexions- und Mitmachrunde einzubinden. Ihnen sollte erst gar nicht die Gelegenheit zur Passivität eingeräumt werden.

Rekapitulieren wir dementsprechend gemeinsam einen  abwechslungsreichen Abend.

Zu den vier Stationen

In der ersten Station blickten die Studierenden differenzierend auf neuhochdeutsche Übersetzungen der homerischen ,,Ilias” in Altgriechisch. Es fiel auf, dass die formale und inhaltliche Nähe der neuhochdeutschen Übersetzung vom Verlag und dessen Übersetzer*innen abhänge. Beispielsweise wurde auf die gravierenden Unterschiede sowohl im Hinblick auf sprachliche Semantik als auch in der inhaltlichen Erzählstruktur deutlich gemacht. Nicht ganz unbedeutend war daher, dass plötzlich Figuren in der Übersetzung verschwanden und weibliche Figuren mit negativ konnotierten Bezeichnungen ausgewiesen wurden. Obwohl alle neuhochdeutschen Übersetzungen das Ziel verfolgt haben mögen, ,,die” eine Textvariante zu produzieren, müssen sie dennoch als mögliche Interpretationsversuche eingestuft werden.

Schon auf dem Weg zur nächsten Station wurden die Besucher von Musik und Gesang in Empfang genommen. Ein cleverer Kniff der Musical-Gruppe, das Interesse an ihrem Projekt zu wecken.

Die zweite Projektgruppe hatte sich mit Jorge Rivera-Herrans’ englischsprachigen Musical ,,EPIC” befasst, welches online vollständig zugänglich ist und wegen seiner wachsenden Community in naher Zukunft uraufgeführt werden soll. In einer neuen Adaption macht Rivera-Herrans’ die Erzählung um Odysseus auch für das jüngere Publikum attraktiv. Spannend ist, dass er nicht nur die Musik und die Texte für jede einzelne Saga (Kapitel) geschrieben hat, sondern auch die Odysseus-Figur vertont. Er versucht keine flache Heldenfigur abzubilden, sondern zeigt in Form von Dichotomien die Komplexität von (menschlichen) Handlungen und Entscheidungen. Als Beispiel wurde den Besuchenden das Stück ,,Monster” aus ,,The Underworld Saga” vorgespielt.

Darin stellt der vertonte Odysseus die Schuldfrage für seine Lebensentscheidungen und die Konsequenzen für seine Umwelt dar. Er fragt in Verzweiflung: ,,What if I am the Monster?”.

Die Studierenden gaben die Frage, inwiefern Odysseus in der Adaption nach Rivera-Herrans als Mann oder als Monster eingestuft werden könnte, an die Besuchenden weiter. Ein Plakat und rote Aufkleber wurden dafür vorbereitet.

Wie hätten Sie sich positioniert und warum?

Hier ist das Ergebnis des Abends:

Dieses Plakat sollte den Besuchenden die Stellungnahme erleichtern.
Nach reiflicher Diskussion blieben einige Personen neutral, während die Mehrzahl dahin tendierte, die Figur ,,Odysseus” als ,,Mensch” einzuordnen.

Die dritte Station bildete das Figurenpaar ,,Odysseus und Skylla”, welches die Projektgruppe in Anlehnung an die karolingische Wandmalerei des Corveyer Klosters entworfen hatte. Das einzige im Mittelalter überlieferte Bild der Geschichte sollte in Form von zwei Pappaufstellern für die heutige Zeit greifbar gemacht werden. Entstanden war ein Selfie Point, der – im Gegensatz zu seinem gemalten Vorbild – dazu einladen sollte, in Interaktion zu treten: Odysseus wurde für einen Moment im Raum des Museums plastisch erlebbar. Es wurde sehr großen Wert darauf gelegt, dass die Besuchenden nicht dem Staunen verfallen, sondern in Interaktion mit den Figuren treten sollten. Damit sollte der Installation Leben eingehaucht und die aktive Neugier angeregt werden.

Die Besuchenden hatten durch die Figuren die Möglichkeit, aktiv an der Erinnerungs- und Rezeptionskultur teilzunehmen. Durch das Fotografieren mit den Figuren wurden sie spielerisch ein Teil der Odysseus-Erzählung. Jede Person konnte ihre eigene Geschichte von Odysseus und Skylla erzählen. Ein spannender Nebeneffekt war die veränderte Dynamik im Ausstellungsraum, da die Besuchenden jetzt ausnahmsweise Objekte anfassen durften.

(Unter uns: Ich sah vor Beginn des Abends, wie Odysseus’ muskulöser Körper mit einer Fusselbürste bearbeitet wurde. Auch bei der Skylla mussten erst noch einige Körperpartien zurechtgerückt werden. Näher kann man antiken Figuren wirklich nicht kommen. Homer hätte das bestimmt nie zu träumen gewagt. 😉)

Dieser Odysseus nimmt zwar die Haltung der Corveyer Bildvorlage auf, der vestimentäre Code präsentiert ihn jedoch als mittelalterlichen Herrscher.
Die Figur der Skylla hat im Vergleich zu ihrem männlichen Gegenüber eine moderne Ausrichtung erfahren. Sie wurden mit dynamischer Farbigkeit, verschiedenen Materialien und weiblichen Akzenten erweitert, um Plastizität zu erzeugen.

In vielerlei Hinsicht sind demnach einzelne Aspekte und Erzähldiskurse in diesem Figurenpaar ergänzt worden. Der Phantasie sind ja bekanntermaßen keine Grenzen gesetzt. Die Interaktion mit den lebensgroßen Aufstellern sollte den Besuchenden den antiken Erzählstoff leichter zugänglich machen. Der performative Akt lässt sie so an der Rezeption des Odysseus-Erzählstoffes mitschreiben. Der museale Raum wird dadurch zum Erfahrungsraum, in dem spannende Erinnerungen neu kreiert werden können. Jede Person kann sich für die eigene Inszenierung dabei beispielsweise fragen: Versuche ich die Figurengruppe als mythologischer Kämpfer*in zu ergänzen? Odysseus kann vielleicht eine helfende Hand gebrauchen. Oder stelle ich mich vielleicht doch auf die Seite der Skylla?

Odysseus und Skylla laden zu vielen Möglichkeiten der interaktiven Neuinterpretationen ein, und zwar ganz unabhängig von der antiken Text- oder mittelalterlichen Bildvorlage.

Jede*r, der mit den Figuren interagiert, konnte darüber hinaus am Ende des Tages ein personalisiertes Stück des Corveyer Weltkulturerbes mit nach Hause nehmen (Foto). Die kulturelle Umdeutung der antiken Stoffvorlage und der mittelalterlichen Rezeption wird dadurch mit jeder Person fortgeschrieben. Im Kern versuchte das Figurenpaar auf eine andere Weise, die derzeitige Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” in sich zu spiegeln, die sich u.a. mit der kulturellen Aneignung auseinandersetzt (Vgl. Blogbeitrag vom 14.11.24).

Dies verdeutlicht die Fluidität von Kulturprozessen, die nicht allein von den Exponaten abhängig gemacht werden können, sondern gleichwohl von jeder /jedem einzelnen mitgetragen werden. Also: Welchen Teil von Kultur und Rezeption wollen wir – können wir, kannst du und ich – weitertragen?

Die letzte Gruppe befasste sich mit dem Heldenbild in dem Film ,,Die Abenteuer des Odysseus” (1997). Sie zeigte die Begegnung der Titelfigur und ihrer Mannschaft mit den Seemonstern Skylla und Charybdis in einer Meerenge. Die Bedrohung durch das erste weibliche Monster zeigte sich in der herrschenden Stille, während die Besatzung ihre Höhle durchquerte sowie in den angsterfüllten Gesichtern der Männer. Von der Skylla waren nur Tentakel zu erkennen. Die eingeschränkte Sichtbarkeit in der Höhle und die plötzlichen Geräusche von sterbenden Männern und einer (unschuldigen) Ziege, boten in dieser filmischen Adaption keine Grundlage für das Eingreifen eines mutigen Odysseus. Statt dem klassischen Heldenbild zu entsprechen und das Leben seiner Mannschaft zu verteidigen, zieht er sich zurück und lässt seine Männer nacheinander von den beiden Meeresungeheuern verschlingen. Odysseus handelt nicht heldenhaft, obwohl die Zuschauer*innen/Besuchenden dies von ihm erwartet hätten. Der Film bricht also mit den gängigen Vorstellungen der Rezipienten von einem heldenhaften Odysseus. Im Museum diskutierten die Besuchenden anschließend, ob der Verlust von einigen Männern nicht als Kollateralschaden bewertet werden könnte, weil durch den Tod von einigen wenigen Personen eine größere Menschenmenge gerettet werden konnte… Unabhängig von der eigenen Positionierung ist es gut, dass die Kunst den Freiraum bietet – abgelöst von kulturellen und sozialen Wertkategorien – an Gedankenexperimente verschiedener Form (Literatur, Musik, Plastik, Film), teilzunehmen.

links: Der Screenshot verbildlicht den Schrecken und die Angst, bevor Skylla das Schiff überwältigt. Rechts: Im Vergleich mit der Corveyer Wandmalerei reduziert der Film die Skylla-Figur auf einzelne nicht-menschliche Körperteile, die eher der Hydra entsprechen.

An dieser Stelle möchte ich mich bei den Studierenden der Universität Paderborn für die Organisation eines vielfältigen Abends bedanken. Die Gesprächs- und Diskussionsbereitschaft der Besuchenden war sehr anregend. Daher auch einen herzlichen Dank an die Teilnehmenden für die vielen inhaltlichen Impulse.

Adriana Papadopoulou

Ein Beitrag von Künstler und Kalligraph Brody Neuenschwander 


I am told that handwriting is disappearing or has already disappeared. Many of us follow this story with sad fascination, assuming that the demise of this fundamental human activity will bring cultural disaster in its wake. The great irony is that calligraphy, handwriting’s well-dressed twin, lives on and even grows in popularity. Calligraphers themselves will often admit that they type more than they write, but when they DO write, it is with skill, deliberation and deep pleasure. Writing, in the hands of a calligrapher, makes language visible, beautiful, memorable.


But the keyboard and the screen rule our lives. So, what motivates a calligrapher to take up pen and ink and spend intense hours giving shape to words? Why do we sacrifice clarity and efficiency? Why make a text harder to read?


The place of calligraphy in the modern world is not easy to define. And yet, every year more people take calligraphy classes, investing time and energy in learning a skill that seems to be out of date. What do they do with this newly acquired skill?


They enhance the meaning of words.

They record thoughts and feelings.

They give shape to the stories of their lives.


In other words, they honor words. Calligraphy is perhaps unique in that it sits on the borderline between art and language. We read calligraphy and we look at it. It is in the calligrapher’s power to guide us through meaningful words in different ways. Calligraphy can be elegant, serene, and legible. It can be disturbing, hard to read, and challenging. It can express every emotion that the calligrapher can feel. Ink translates feeling into line, into letters, into works of (text) art.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Can this art form have a social role? Can the calligrapher be the artful secretary who records another’s story? The Diocesan Museum in Paderborn has just carried out an experiment to test this possibility. “Tell me, o Muse,” was an event that brought calligraphers and re-rooted Paderborners together, the one telling a personal story, the other transforming it into calligraphy. On November 2, 2024, the public was invited to look over the shoulders of eight calligraphers as they transcribed and transformed the stories of eight Paderborn citizens who have arrived in the city from elsewhere over the years. Each re-rooted Paderborner was asked to write about her/his experience of migration, movement, relocation, restarting life in a new place. What was it like to move from Turkey or the United States to Germany? How difficult was it to make new friends? Was it hard to learn German? Do you miss your homeland? Can Germany become your new homeland? These are difficult questions, and they are faced by millions around the world today.


Eight stories of movement, loss, new beginnings. Eight calligraphers to write them. There was little or no contact between the storyteller and the calligrapher before the evening in the museum. The calligraphers received the stories in advance, giving them the chance to read the story and think about its meaning before the event began.


During the event the calligraphers created a work of art based on the story they were given. This was a personal interpretation of the words, not intended to please the storyteller. The calligrapher worked as an artist, using the words of the story as a catalyst for a work of art. At the end of the evening, the calligrapher and the storyteller met. Some storytellers could identify with the art works created from their stories. Others perhaps less so. But all felt that a bridge had been built, a story heard, a story told. The delicate, intimate interaction of artist and text became a warm, open invitation to friendship between artist and storyteller.

I wonder if this experiment can point calligraphy in a new direction. Can calligraphers become the listeners? Can they bring the stories of all kinds of people to the public in a new way? Can they interpret words, shape sentences, create works of art out of the stories that we all have and want to tell? “Tell me, o Muse” was a successful experiment. It is worth taking the idea further. There are many calligraphers in Germany today. I am confident that many of them would take up the challenge of recording the stories of all kinds of people, young and old, German and foreign, all religions and none.


We all have stories to tell. Let us give calligraphers a new task: to record our stories and transform them into works of art.

Text von Waltraud Murauer-Ziebach.


Was passiert mit unseren Erinnerungen, mit unseren Erfahrungen, mit unseren Kenntnissen, wenn wir sie nicht aufschreiben? Bleiben sie erhalten? Was geschieht mit unseren kulturellen Werten, mit unserem Wissen? Hinterlässt das alles Spuren nur im familiären Erinnern oder auch im kollektiven, im gesellschaftlichen Kontext?


Die Ausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ spürt Quellen jahrhundertealten Wissens auf und trägt sie temporär neu zusammen. Hier wird deutlich wie Kultur- und Wissenstransfer, wie Handelsbeziehungen und Migrationsbewegungen seit Jahrtausenden unsere Gesellschaft befruchten, verändern und bis heute prägen. Kulturtransfer – in welcher Form auch immer – ist eine wirkmächtige gesellschaftliche Kraft. Aus diesem Gedanken heraus hat das Team des Diözesanmuseums Paderborn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, gemeinsam mit Kalligraf*innen aus Deutschland, Belgien und den USA zu einem ungewöhnlichen Experiment eingeladen. Unter der Federführung des amerikanisch-belgischen Künstlers und Kalligrafen Brody Neuenschwander fand am 2. November 2024 die Kunstperformance „Tell me, O Muse…“ statt.


Persönliche Odysseen

Acht Erzählende teilten ihre Erlebnisse, ihre persönlichen Geschichten mit acht Schreibenden, Gestaltenden, um sie in neuer Form zu bewahren. Heute in Paderborn lebende Menschen aus Persien, der Türkei und Russland, aus Haiti, Vietnam und den USA, aus Frankreich und den Niederlanden berichteten von ihren persönlichen Odysseen. Der Bitte des Museumsteams und einem im Vorfeld erarbeiteten Fragenkatalog folgend, brachten sie Erlebtes, Gefühltes und Erlittenes zu Papier. Die einen in kurzen Antworten auf die gestellten Fragen, andere schrieben Berichte, Briefe, schickten Gedichte …


Verbindungen schaffen

Auf den verschiedenen Ebenen des Museums stellten die Kalligraf*innen einen Abend lang ihre Arbeitstische auf. Zwischen jahrhundertealten, kunstvoll gestalteten Handschriften, antiken Skulpturen und beeindruckender mittelalterlicher Schatzkunst, sollte etwas Neues entstehen und Verbindungen sichtbar werden. Mit Feder, Pinsel und Tinte näherten sich die Kalligraf*innen den Lebenserinnerungen der Menschen an, die mal mehr, mal weniger freiwillig von ihrer Kultur in eine andere, die unsere, wechselten. Ein intuitiver Prozess in der jeweils eigenen künstlerischen Sprache der Kalligraf*innen. Die Migrant*innen waren eingeladen zuzuschauen. Erst am Ende des Abends traf man sich zum Austausch.

Vergesst nicht, dass wir alle Menschen sind —
Nilgün Özel trifft Kalligrafin Veronique Vandevoorde


„Als wir 1966 aus meiner, mit 800.000 Einwohnern recht großen, Heimatstadt Eskişehir in der Türkei nach Deutschland, ins kleine, sauerländische Marsberg kamen, war das ein Kulturschock“, erzählt Nilgün Özel. „Meine Mutter packte ihre Miniröcke weg und sagte, die kann ich hier nicht tragen, das kennen sie noch nicht. Und ich lernte, dass höfliche junge Mädchen knicksen.“ Nilgün Özel lacht. Sie stammt aus einer Familie, in der Bildung und Kultur eine wichtige Rolle spielen. Der Vater, der in der Türkei nicht studieren konnte, wollte sich in Deutschland diesen Traum erfüllen aber vor allem hat er allen seinen Kindern, Jungen wie Mädchen, eine akademische Ausbildung ermöglicht. Unterdessen lebt Nilgün Özel seit 44 Jahren in Paderborn. Sie findet viele Gemeinsamkeiten zwischen ihrer ehemaligen und ihre heutigen Heimatstadt: die historischen Bedeutung, die vielen Quellen, die Universitäten, … Sie selbst sieht sich in gesellschaftlicher Verantwortung, engagiert sich ehrenamtlich in vielen kulturellen und sozialen Organisationen, sammelt Kunst und fördert junge Künstler*innen.

Für die Kalligrafin Veronique Vandevoorde aus Gent sind Sprache und Schrift nicht nur Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Bindemittel zwischen Menschen. Zwischen ihr und Nilgün Özel ist an diesem Abend eine besondere Verbindung entstanden und sie zeigt sich im kalligrafischen Werk.

Hier bin ich stark geworden…
Nguyet Rodehutskors trifft Kalligrafin Ute Meyer-Koppert

„Was ich von den Deutschen übernommen habe, das ist das Selbstbewusstsein“, sagt Nguyet Rodehutskors, „und das ist gut“. In Vietnam, erzählt sie, werde man zur Bescheidenheit und Zurückhaltung erzogen, hier muss man sich durchsetzen und behaupten können. Sie ist in einem behüteten Zuhause aufgewachsen, zweisprachig, mit Vietnamesisch und Französisch, besuchte eine Privatschule. Kultur und Bildung prägten ihre Familie. Mit 22 hat sie das alles hinter sich gelassen und ihre Heimat alleine verlassen. „Aus politischen Gründen“, erklärt sie, so wie rund zwei Millionen Menschen, die als „Boat People“ nach dem Ende des Vietnamkriegs vor dem kommunistischen Regime flüchteten. In Deutschland konnte Nguyet Rodehutskors ihren Traum verwirklicht, sie ist Dolmetscherin geworden, hat geheiratet und zwei Kinder bekommen. Was sie mitgebracht habe, in die neue Heimat, wollen wir wissen. „Offenheit, Optimismus, Toleranz, Ausdauer und eine leckere, gesunde und vielseitige Küche“, sagt Nguyet und lächelt.


Die deutsche Kalligrafin Ute Meyer-Koppert hat für Nguyet Rodehutskors ein feines, filligran wirkendes Bild geschaffen. „Ich habe einfach das Herz sprechen lassen“, sagt sie. Nguyet ist begeistert: „Das hat Leichtigkeit, aber Schwere ist auch dabei“, sagt sie spontan. „Und, ja, so ist das auch in meinem Leben. Unter den Kommunisten in Vietnam gab es sehr viel Schweres zu erfahren, schreckliche Dinge sind passiert, aber hier, nach der Flucht über den Ozean, konnte ich meine Leichtigkeit wiederfinden.“

Hilfsbereitschaft ist ansteckend …
Malihe Nadjafi trifft Kalligrafin Goedele Soetewey

„Längst sind wir alle Deutsche, aber wir tragen auch weiter persische Kultur in uns“, sagt Malihe Nadjafi über sich und ihre Familie. „Beim persischen Neujahrs- und dem Feuerfest, denke ich oft an das christliche Osterfeuer. Und unser leckeres persisches Essen erfreut auch die deutschen Freunde.“ Mitte der 1980er-Jahre wollte Nadjafis nach Schweden auswandern, doch ein familiärer Schicksalsschlag führte sie nach Paderborn. „In den ersten sechs Monaten habe ich viel geweint“, erzählt Malihe Nadjafi. „Plötzlich war ich in einer kleinen, fremden Stadt, weit weg von der Großstadt Teheran, wo ich so viele Möglichkeiten hatte.“ Die Anfangszeit ist schwierig. Abbas Nadjafi kann zwar sofort arbeiten, übernimmt das Geschäft seines verstorbenen Bruders, doch als er beruflich in den Iran reist, wird er dort mehr als ein Jahr lang festgehalten. Malihe Nadjafi ist damals schwanger. „Ich hatte viel Unterstützung von einer deutschen Familie und auch von der Kirche“, sagt sie. Heute helfen die Nadjafis anderen Einwanderern, vornehmlich – auch wegen der gemeinsamen Sprache – Iranern und Afghanen.

Die belgische Kalligraphin Goedele Soetewey hat Malihes „Wort für Wort-Geschichte“ aufgeschrieben – auf Englisch und auf Deutsch: Zwei große, ganz unterschiedlich wirkende „Schrift-Bilder“ sind entstanden, Dokumente gelebter Geschichte. Als Malihes Mann Abbas, sie sah, schlug er der Kalligrafin vor, er könne eine dritte Version auf Persisch hinzufügen. So entstanden ein anregender Dialog und ein beeindruckendes Ergebnis.

Ich habe erfahren, dass ich mich überall zuhause fühlen kann …
Dominique Charli trifft Kalligrafin Eveline Petersen-Gröger

„Grob 25 Mal bin ich in meinen Leben umgezogen“, erzählt Dominique Charli. Geboren im kleinen französischen Städtchen Meaux ging es zum Studium ins nahegelegene Paris, später quer durch Deutschland, dann auf die Kanareninsel La Palma und schließlich nach Paderborn. „Durch diese Lebensreise habe ich erfahren, dass ich mich überall zuhause fühlen kann, wenn ich in mir ruhe“, erzählt Dominique Charli. Dominiques Ursprungsfamilie hat neben französischen auch polnische Wurzeln, die ihres Mannes liegen in Frankreich, Deutschland, Portugal und Spanien. Ein Melting Pot und gar nicht so ungewöhnlich. Persönliche Odysseen sind seit Jahrtausenden Herausforderung und Chance, Motor für Fortschritt und kulturelle Entwicklung. „Mir ist bewusst, dass ich als Französin privilegiert bin“, sagt Dominique Charli. „Viele neue Bürger aus entfernten Ländern und Kulturen haben es heutzutage nicht so leicht. Die Begegnung mit der Fremde ist aktuell eine große Herausforderung und ich finde alle hiesigen Bestrebungen, kulturelle Brücken durch Veranstaltungen herzustellen, sehr wertvoll.“

Lebensreise und Freiheit das sind zwei der zentralen Worte, die die in Norddeutschland lebende Kalligrafin Eveline Petersen-Gröger hervorgehoben hat. Dominique Charli ist an diesem Abend nicht von ihrer Seite gewichen und hatfasziniert zugeschaut. Die Chemie zwischen den beiden Frauen stimmte gleich.

Liebeserklärung an P.
Tatjana Lemler trifft Kalligrafin Christiane Pucher

„Es war eine „Zwangsheirat“ im weitesten Sinne, die sich später zur einer der größten Lieben meines Lebens entwickelt hat.“ Das ist einer der ersten Sätze in Tatjana Lemlers ungewöhnlichem Text. Auf zwei Seiten – halb (Liebes-)Brief, halb Essay – zeigt die gebürtige Russin aus Kasachstan ihre Gefühle, lässt in „P.“ (= Paderborn) Erlebtes und Erlittenes auch mal mit feiner Ironie aufblitzen. Mit 16 Jahren, 1979, verlässt sie Russland, kommt nach Paderborn, erlernt die fremde Sprache und schafft den Sprung aufs Gymnasium. Nach dem Fachabitur verlässt sie P., doch sie hat Sehnsucht, Heimweh nach der alten, neuen Heimatstadt. In poetischen Worten beschreibt Tatjana Lemler all das, was sie an Paderborn liebt: Mauerfragmente die von früher erzählen, das viele Wasser, den Zauber geschichtsträchtiger Orte, den Dom, die Chöre, denen sie dort zuhören kann, den Trubel der Libori-Woche … „In diesen ca. 20 Jahren habe ich dich kennen und lieben gelernt, und das war überhaupt nicht schwer“, heißt es am Ende ihrer Leibeserklärung an Paderborn.

Aus dem poetischen Text, der auf zwei profanen Druckseiten daher kommt, machte die in Paderborn lebende Kalligrafin Christiane Pucher mit ihrer „Kunst des Schreibens“ ein einzigartiges und wunderschönes Dokument der Erinnerung.

Freundlichkeit kostet nichts und bringt dich immer weiter…
Christelle Lindhauer trifft Kalligrafin Sigrid Artmann

„Ich bin ein karibisches Mädchen“, sagt Christelle Lindhauer und erzählt, dass es für sie nicht so einfach war, die deutsche Pünktlichkeit und Gründlichkeit zu erlernen. Mit 16 Jahren ist sie hergekommen. In ihrer Heimat Haiti war sie nicht mehr sicher. „In meiner Kindheit war es ein Traum dort zu leben“, erzählt sie. Ihre Familie hat deutsche Wurzel, und als sich die Lebenssituation auf der Karibikinsel verschlechterte, wurde Christelle zur Tante nach München geschickt. „Da habe ich mich lange wohl und heimisch gefühlt“, sagt sie und fügt hinzu: „Jetzt fühle ich mich hier zuhause aber ich bin immer noch dabei, diese kleine Stadt, die mir jeden Tag mehr ans Herz wächst, zu entdecken und freue mich auf all die Überraschungen, die auf mich warten.“ Christelle sagt von sich selbst, dass sie sowohl die deutsche Gründlichkeit als auch die karibische Gelassenheit verkörpert und ergänzt: „Ich erziehe meine Kinder nach dem Motto „Freundlichkeit kostet nichts und bringt dich immer weiter.“

Die Schriftkunst der aus dem Süden Deutschlands stammenden Kalligrafin Sigrid Artmanns ist ungezähmt, ein bisschen unberechenbar und fröhlich  – das passt hier sehr gut. Dem „karibische Mädchen“ mit dem „Sonnenscheingemüt“ und der sprichwörtlichen Gelassenheit hat sie in roten Lettern einen besonderen Platz in ihrer Kalligrafie reserviert.

Staunen über Kirche, Kultur und Kirmes
Kalligrafin Joke Boudens bringt Wicher Broers Geschichte zu Papier

Seit mehr als 20 Jahren lebt der Niederländer Wicher Broer in Paderborn, seit 10 Jahren ist er als Stadtführer aktiv. Was war hier fremd für ihn? Was hat ihn erstaunt? In seiner Geburtsstadt Enschede, spielte die Textilindustrie eine große Rolle. „Sie war dadurch stark politisch linksorientiert. Religion hatte in dieser Gesellschaft keinen großen Stellenwert“, schreibt er und ergänzt: „Weil ich u.a. pädagogisch tätig war, kam ich automatisch in Kontakt mit katholischen Trägern. Dadurch beobachtete ich kirchliche Einflüsse auf viele Bereiche dieser Gesellschaft. Besonders prägte mich das große jährliche Liborifest im Sommer.“ Der Umgang mit den Reliquien, die durch die Stadt getragen werden, während nebenan die Menschen auf der Kirmes feiern, aber auch die Kultur der Schützenvereine riefen bei Wicher Broer großes Erstaunen hervor. Doch durch seine Tätigkeit als Gästeführer habe er die vor allem den Dom mit all seinen vielen kulturellen Aspekten lieben gelernt.

Die Kalligrafin Joke Boudens aus Brügge sagt über ihre Arbeit: „Lange Zeit konnte ich mich nicht zwischen Lettering und Illustration entscheiden, bis ich schließlich feststellte, dass ich beides gut miteinander kombinieren kann.“ Und das sieht man auch bei ihrer Arbeit für Wicher Broer, auf der sie zentral – zwischen fast architektonisch anmutenden Schriftblöcken – den Turm des Paderborner Doms platziert hat.

Ich habe hier meinen Platz gefunden…
Jennifer Mc Dormand trifft den Kalligrafen Brody Neuenschwander

Kann ich als Amerikanerin auch auf Deutsch witzig sein? Kann ich als Au Pair europäische Kinder zum Lachen bringen? Mit einem One-Way-Ticket ab Chicago Airport startete die damals 23-jährige Jennifer McDormand ihre Reise ins Ungewisse. Über Österreich geht es ins bayrische Bamberg, Jahre später schließlich nach Paderborn. Dunkel Zeiten habe sie erlebt, berichtet Jennifer, die sich lange sprachlich und kulturell nicht wirklich verstanden und gesehen fühlt. „Ich sehnte mich danach, Teil von irgendetwas zu sein“, erzählt sie. Es ist die Paderborner Familie ihres späteren Ehemannes, die ihr die lange vermisste Geborgenheit und Akzeptanz geben kann. „Ich werde immer einen besonderen Platz in meinem Herzen für andere ‚Ausländer‘ haben“, schreibt Jennifer McDormand in ihrem Text. „Wenn wir uns treffen, werden wir intuitiv ein kleines Stück voneinander verstehen. Wir werden ein wissendes Lächeln teilen, ein Nicken oder auch nur einen flüchtigen Blick. Denn wir wissen, was es bedeutet, ein ‚Ausländer‘ zu sein.“

Der Kalligraf und Künstler Brody Neuenschwander hat Jennifers Geschichte in großen Bögen, mit vielen Farben und ganz unterschiedlichen Lettern festgehalten. „Als Künstler sind es die Sprache und die Probleme von Sprache, die mich interessieren“, sagt Brody Neuenschwanger. „Schreiben oder Textkunst sind für mich Möglichkeiten, die Spannung zwischen dem, was wir zu wissen glauben, und dem, was wir tatsächlich wissen, zu untersuchen oder aufzuzeigen. Und natürlich ist es auch ein Prozess der Kommunikation.“

Der Gesang der Muse geht weiter

Für alle Teilnehmer*innen war es ein inspirierender und bewegender Abend und es wurden Kontaktdaten ausgetauscht, um zukünftig in Verbindung zu bleiben.

Alle Fotos: ©Harald Morsch

Einen wunderschönen guten Tag. Ich möchte mich gerne einmal vorstellen: Mein Name ist Adriana Papadopoulou. Ich studiere Germanistische Literaturwissenschaften im Einfach-Master an der Universität Paderborn und darf mein außeruniversitäres Praktikum im Paderborner Diözesanmuseum absolvieren. Der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität habe ich es zu verdanken, dass ich in der diesjährigen Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” hinter die Kulissen blicken darf. So begleite ich nun auch die öffentliche Reihe ,,Dialoge im Museum” mit Blogbeiträgen, in denen ich die gemeinsamen Abende Revue passieren lasse.

Griechischer Klappspiegel mit der Darstellung des Meeresungeheuers Skylla, Bronze, Eretria, um 320 v. Chr., Staatl. Museen zu Berlin

Am 14.11.2024 fand der zweite Gesprächsabend in großer Runde im Diözesanmuseum statt. Unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Aneignung führten uns der Gastredner Prof. Dr. Joachim Jacob von der Universität Gießen, Prof. Dr. Lothar van Laak von der Universität Paderborn und die Kuratorin der Ausstellung Dr. Christiane Ruhmann durch den Abend.

Zur Einführung wurde am Beispiel eines antiken Klappspiegels mit Skylla-Darstellung und eines mittelalterlichen Sirenenaquamaniles der Umgang des Mittelalters mit antiken Inhalten nachskizziert. Im Anschluss widmeten wir uns Franz Kafkas Werk ,,Das Schweigen der Sirenen” (1917).

Antikenrezeption: aneignen, überprüfen, verbessern, einverleiben?

Die mittelalterlichen Klöster mit ihren Schreibstuben und Bibliotheken waren Orte der Antiküberlieferung, die das Wissen der Antike selektiv in Form von architektonischen Gestaltungselementen, Malerei und Schriftkunst rezipierten. Die Inhalte wurden gewiss nicht bloß übernommen, sondern sorgfältig auf ihre Tauglichkeit für das Christentum hin überprüft. Ein antiker Text, der zwar als geistig und sprachlich hervorragend verstanden werden konnte, aber von einem christlichen Geistlichen als heidnisch hätte eingestuft werden können, brauchte besondere Argumente, um als wertvolles und überlieferungswertes Kulturgut ausgewiesen zu werden.

So konnte in Corvey das Bild des gegen das Seemonster (,,Skylla”) kämpfenden Odysseus als Präfiguration für den Erzengel Michael dienen.

Daran wird deutlich, dass der antike Stoff erst fragmentiert und anschließend transformiert in die eigene Kultur überführt wurde. Demnach wurden also nach einem bestimmten religiös-didaktischen Sinn die antiken Texte mit christlichen Semantiken angefüllt.

Ein weiteres Beispiel für den mittelalterlichen Umgang mit dem antiken Stoff zeigt das Sirenenaquamanile aus dem Kunstgewerbemuseum Berlin. Das Gefäß zeigt sich als eine Mischung aus bekrönter Frau, Vogel und Fisch. Grundlage mag ein Text des antiken Dichters Horaz gewesen sein. Dieser beschreibt in seiner ars poetica die Dichtkunst – die gute wie auch die schlechte. Letztere schildert er wie ein Mischwesen aus verschiedenen menschlichen und tierischen Einzelteilen.

Die Erscheinung und Kunstfertigkeit des Aquamaniles verdeutlicht also nicht nur den hohen Bildungsgrad des Auftraggebers bzw. Künstlers, sondern darüber hinaus auch die Fähigkeit, die antiken Inhalte für das Mittelalter angebracht rezipieren zu können.

Beide Exponate – Wandmalerei und Aquamanile – führen weiterhin vor, wie der antike Stoff für den eigenen kulturellen Gebrauch habhaft gemacht wurde.

Wie sieht es jedoch mit unserem Umgang mit Überlieferungen, Geschichten und Mythen aus?

Sirenenaquamanile, Bronze, aus dem Schatz des Stifts St. Dionysius zu Enger/Herford, um 1230

Kafkas Sirenen schweigen wirkungsmächtig, dafür spricht sein Text

Kafkas Text versucht auf die vielschichtigen Fragen einzugehen, indem er die Kraft der Imagination und die antike Odysseus-Erzählung dazu gebraucht, dem Rezipienten gedankliche Experimentierräume zu eröffnen.

„Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.

Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.

Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.

Sie aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.

Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.

Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.“

Es ist spannend zu sehen, dass unsere Lebenswirklichkeit auf bestimmte Problemstellungen im Alltag keine Lösungen geben kann und wir uns neue Freiräume erschließen müssen, um mit unseren Lebenserfahrungen umgehen zu können. Die Kunst bietet sich als Reflexions- und Projektionsgegenstand gut an, weil sie ebenso frei von Regelungen ist. Jede*r darf sich der Kunst mit ihren/seinen Erfahrungen und Wissen annähern, ohne Angst haben zu müssen, von ihr zurechtgewiesen zu werden. Es kann sogar als kindliches Lernspiel betrachtet werden, wenn die existentiellen Herausforderungen mit den Mitteln der Kunst beschreiben werden können – nicht mit den Mitteln der Welt.

v. links n. rechts: Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann, Prof. Dr. Joachim Jacob (Uni Gießen) und Leiter der Reihe "Dialoge im Museum" Prof. Dr. Lothar van Laak (Uni Paderborn)

Die Besuchenden am Veranstaltungsabend waren frei, sich von Kafkas Text verzaubern zu lassen. Während Prof. Dr. Jacob von der Kraft der Imagination fasziniert war, an der die Wirklichkeit zerbricht, fiel der Kuratorin Dr. Ruhmann auf, dass der Text vorgibt, historische Fakten wiederzugeben, obwohl diese nur literarisch gemeint sind. Der wechselnde Erzählgestus ließ einen der Besucher fragen, welche Instanz zu den Lesern spräche. Unmerklich beschreibe der Text die Entwicklung eines Mythos/einer Geschichte, ohne dass Einwände erhoben werden könnten. Zurecht wurde damit auf das Gefahrenpotential verwiesen, welches aus einem falschen Umgang mit Informationen, Fakten und Wissen resultieren kann.

Unabhängig davon denkt Kafka auch daran, den Lesern Hoffnung zu schenken. Wenn es im Leben schwierig werden sollte, gibt es einen Ort, der von niemandem erreicht werden kann: Das Innere. Daraus kann Kraft geschöpft werden.

Ein herzliches Dankeschön für die Organisation des schönen Abends und natürlich auch an die große Besuchenden-Runde. Leider ging der zweite Gesprächsabend viel zu schnell vorbei. Die Vielzahl der Meldungen, Kommentare und Beobachtungen der Besuchenden wollte gar nicht abbrechen. Spitze!

Sollten Sie noch nicht die Gelegenheit dazu gehabt haben, an einem Gesprächsabend teilzunehmen, so besteht am 16. Januar die nächste Gelegenheit. Hier wird sich Herr Prof. Dr. Lothar van Laak gemeinsam mit Frau Prof. Dr. Barbara Beßlich (Literaturwissenschaft), Heidelberg mit der Odysseus-Thematik auseinandersetzen.

Lass Sie sich überraschen!

Adriana Papadopoulou

Credits (Texte)

Horatius, Quintus Flaccus. Ars Poetica.

Link zum lateinischen Originaltext

Link zu einer deutschsprachigen Übersetzung

Kafka, Franz: Das Schweigen der Sirenen. Hrsg. v. Roger Hermes. Fischer Klassik 2010.

Link zum Primärtext

Link zum Primärtext

Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter. Hrsg. v. Holger Kempkens und Christiane Ruhmann. Michael Imhof Verlag 2024. S. 268-269.; S. 303-311.; S. 570-572.

Credits (Abbildungen)

Klappspiegel: Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung / Foto: Johannes Kramer

Sirenenaquamanile: Staatliche Museen zu Berlin | Kunstgewerbemuseum | Foto: Arne Psille

Gruppenfoto: Adriana Papadopoulou

Einen wunderschönen guten Tag. Ich möchte mich gerne einmal vorstellen: Mein Name ist Adriana Papadopoulou. Ich studiere Germanistische Literaturwissenschaften im Einfach-Master an der Universität Paderborn und darf mein außeruniversitäres Praktikum im Paderborner Diözesanmuseum absolvieren. Der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität habe ich es zu verdanken, dass ich in der diesjährigen Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” hinter die Kulissen blicken darf. So begleite ich nun auch die öffentliche Reihe ,,Dialoge im Museum” mit Blogbeiträgen, in denen ich die gemeinsamen Abende Revue passieren lasse.

Corvey und der Gesang der Sirenen

Sirenen gehören schon immer zu der Welt der mythologischen Erzählungen. Auch Odysseus begegnet auf seiner Irrfahrt durch die Meere nicht nur Mischwesen wie der Skylla und der Caryptis, sondern auch verführerisch singenden Sirenen. Gewiss kann diese Begegnung mit diesen monströsen Wesen nicht friedlich ausgehen. Als griechischer Held muss Odysseus gegen sie standhalten und seinen Scharfsinn beweisen. Interessant ist, dass das christliche Kloster Corvey aus dem 9. Jahrhundert diese antike Szene als so bedeutend empfand, dass sie an die Wände des Johanneschores des Corvyer Westwerks gemalt wurde (siehe Rekonstruktion oben).

Heute stellt diese Wandmalerei die einzig erhaltene mittelalterliche Darstellung der Odyssee dar. Für die Sonderausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ wurde sie rekonstruiert und als Animation zum Leben erweckt. Mit den digitalen Mitteln unserer Zeit können wir antike Figuren zwar wiederbeleben, aber wir können die Dargestellten nicht zum Singen bringen. Und so bleibt die Frage, die sich bereits das 18. Jahrhundert stellte: Wie könnten die Sirenen gesungen und sich angehört haben?

Die Oper zu Gast im Museum

Um dieser Frage auch für die heutige Zeit nachzugehen, lud das Diözesanmuseum am 24.10.24 gemeinsam mit Prof. Lothar van Laak (Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaften, Uni Paderborn) ein, einen musikalischen Abend im Dialog zu begehen. Der Gastdozent – Prof. Dr. Andreas Münzmay (Musikwissenschaftliches Seminar Paderborn / Detmold) – zeigte an drei Stationen anhand von ausgewählten Opernstücken, wie in den letzten Jahrhunderten der Odysseus-Stoff wahrgenommen und akustisch interpretiert wurde.

Jedes Stück nahm die vielen Zuhörenden auf eine neue Klangreise mit. In jedem Stück versuchte die Kunst durch die Thematisierung von Sirenen, Musen und der Zauberin Kirke auf verschiedene Gesichtspunkt der Verführung, der Odysseus aber auch wir heute ausgesetzt sein könnten, aufmerksam zu machen. Hören wir nicht alle Stimmen, die uns zweifelsohne sinnlose Versprechen machen, aber unser Leben erschweren? Statt der flüsternden Stimmen und leichten Schritte hörte man im Museum nun Töne und Gesang aus folgenden Stücken (hier veranschaulicht durch Videos und Abbildungen beispielhafter Inszenierungen):

Claudio Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in patria“ (1640)

 

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Jean-Marie Leclairs ,,Scylla et Glaucus” (1746)

 

Jean-Marie Leclairs ,,Scylla et Glaucus” (1746)

 

Helmut Lachmanns ,,Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1997)

 

(Die gelisteten Stücke lassen sich auch im Netz als vollständige Aufführungen oder einzelne Musikaufnahmen finden.)

 

Die Stücken verdeutlichen, dass sich die Komponisten nicht allein auf Odysseus fokussierten, sondern auch Neben- und Randfiguren neue Stimmen verliehen. Lachmann ging sogar so weit, die Sprache und den Gesang experimentell auseinanderzuziehen und mit Musik wieder neu zusammenzusetzen. Für die Oper ist Odysseus’ Seefahrt also bis heute eine Schatztruhe, die immer wieder neu geöffnet werden kann.

Das Publikum spricht

Zunächst bewachte die Bärin die Musiknoten, während die Abenddämmerung die Exponate kleidete. Im nächsten Moment tanzten die Noten vor den mittelalterlichen Handschriften, um abschließend vor Brody Neuenschwanders noch leeren Leinwand halt zu machen. Auf diesem Weg führte uns die Reihe ,,Dialoge im Museum”, in der das Diözesanmuseum in Zusammenarbeit mit der Universität Paderborn das Erbe des Odysseus zum Thema machte. Vor dieser beeindruckenden Kulisse ließ sich das Publikum inspirieren und ergriff sogar das Wort. Damit war das Ziel des Abends erreicht: Jede Person sollte die Möglichkeit erhalten, die Musik mit ihrer Stimme zu übertönen und ihre Meinung in einen neutralen Raum zu äußern. Beispielsweise bezog sich eine Beobachtung auf Penelope (Odysseus’ Ehefrau), die zusammen mit ihrem Sohn auf Odysseus‘ Rückkehr wartete. In der antiken Textvorlage kann die Ehefrau keine neue Familie gründen, sondern nur auf ihren Mann warten. Im Vergleich dazu sind in den vergangenen Jahrzehnten Patchwork-Familien in unserer Gesellschaft normal geworden. Weiterhin bemerkte eindrucksvoll eine Stimme, dass die Probleme, die Odysseus auf seiner Reise begegnet, die Schwierigkeiten des Menschseins nachzeichne. Das sind wichtige Aspekte, die zeigen, dass die Odysseus-Erzählung heute noch aktuell ist und nicht in der Antike verstauben muss.

 

Das war also der erste spannende Abend. Vielen lieben Dank!

Am 14. November wird uns mit der nächsten Episode ,,Dialoge im Museum” wieder die Gelegenheit gegeben werden, gemeinsam ins Gespräch zu kommen. Komm also ruhig vorbei, sei nicht schüchtern. Wir können an den Abenden im Museum sogar laut miteinander über die Exponate und die Kunst reden.

Adriana Papadopoulou

Credits

©Corvey | Westwerk Kloster Corvey | Foto: Kalle Noltenhans, Rekonstruktion: Christoph Stiegemann

©Wiener Staatsoper. https://www.youtube.com/watch?v=hmDZLMhhDfc. Die Wiener Staatsoper führt an fünf Tagen im November 2024 eine Neuinszenierung von Monteverdis ,,Il ritorno d’Ulisse in patria” auf.

©Landestheater Niederbayern. https://www.landestheater-niederbayern.de/events/433.

©Theater Kiel. https://www.theater-kiel.de/oper-kiel/repertoire/produktion/titel/skylla-und-glaukos.

©Deutsche Oper Berlin. https://deutscheoperberlin.de/de_DE/videos/1805.

Staunen und erwarten

Paderborn feiert den 100. Geburtstag von Josef Rikus. Stadtmuseum und Diözesanmuseum widmen ihm eine umfangreiche Doppelausstellung.

Überall ist von den großformatigen Werken des Bildhauers die Rede (Gierstorkreuz, Neptun-Brunnen etc.). Sie verstellen leicht den Blick auf seine Arbeiten im Kleinformat. Verdienen denn diese nicht genauso viel Aufmerksamkeit?

Wie die freien Arbeiten aus dem Frühwerk von Josef Rikus so zeugen auch viele der späteren Kleinbronzen vom ureigensten Ausdruck seines Gestaltungswillens. Denn anders als bei Werken für den öffentlichen Raum bedurfte es hier keinerlei Rücksichtnahme auf den Standort oder die Wünsche der Auftraggeber.

Beide Museen zeigen neben den Entwürfen für seine Großprojekte auch eine Vielzahl jener bemerkenswerten kleinen Arbeiten, in denen Rikus sein künstlerisches Empfinden ungestört formulieren konnte.

Da ist zum Beispiel die Kleinbronze mit dem Titel „Erwartung“.

Sie ist mehr für den Blick von oben als für die Ansicht auf Augenhöhe bestimmt. Fünf Menschen stehen dicht gedrängt. Die Körper sind verschmolzen zu einer Masse, aus der die Arme wie Tentakel zu allen Seiten in den Raum greifen. Ihre angewinkelten Beine ragen wie ausgestellte Stützen unter der zu einem Rumpf zusammengewachsenen Form hervor. Während die hinteren Gestalten noch dem unbestimmten Phänomen entgegendrängen, weichen die vorderen bereits davor zurück. Sie würden rückwärts fallen, gäben die vordrängenden Hintermänner ihnen keinen Halt. Die instabile Körperhaltung des Einzelnen sorgt in der Summe für den festen Stand der Gruppe. Wie die Kräfte eines jeden zur Stabilität des Ganzen beitragen, so summiert sich das in ihrer Gestik und Mimik zum Ausdruck kommende Empfinden zu einem überindividuellen Gemeinschaftserlebnis.

Doch was oder wen erwarten diese fünf Gestalten? Die geöffneten Münder, die geweiteten Augen, die gespannte Haltung, die gesamte Choreographie der staunend himmelwärts schauenden Gruppe schafft eine Atmosphäre, die wir von Ereignissen aus der Bibel kennen. Sie lässt an die Geschehnisse der Weihnacht denken, als die Hirten auf dem Felde der Erscheinung des Engels ansichtig wurden, oder an das Pfingstgeschehen. Vielleicht ist die Ursache auch ganz anderer, nämlich profaner Natur und die staunend hochblickende Gruppe schaut uns an, während wir sie betrachten.

Rikus verzichtete bei vielen seiner Werke bewusst auf eine eindeutige Darstellung. Wie die drei Punkte hinter einem nicht abgeschlossenen Satz regen sie die Phantasie an. Sie schließen das Zukünftige mit ein. Sie lassen ahnen, dass der hier festgehaltene Moment die dargestellte Handlung nicht abschließt. Sie lösen Assoziationen aus: Wie mag die Geschichte wohl weitergehen?

Das würden wir auch gerne wissen bei dem kürzlich abgebauten Gierstorkreuz. Es ist zurzeit in aller Munde und beschäftigt die Zunft der Leserbriefschreiber. Ein dickleibiger Band der „Denkmaltopographie der Bundesrepublik Deutschland“ hat das Kreuz bereits 2018 in den Adelsstand der denkmalwerten Kunstwerke erhoben. Voller Zuversicht hoffen wir nun auf die baldige Rückkehr des Kreuzes und darauf, dass hier nicht eine weitere Chance im Umgang mit bedeutender Kunst vergeben wird.

Zurzeit besteht die Chance, die kleinen Meisterwerke von Josef Rikus im Stadt- und im Diözesanmuseum aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen. Beide Häuser laden dazu ein. Alles steht bereit. Sie müssen nur kommen, sehen und staunen!

 

Hans-Ulrich Hillermann

Abbildungsunterschrift:

Josef Rikus: „Erwartung“, Bronze, 1986, Erzbischöfliches Diözesanmuseum Paderborn

Foto: Ansgar Hoffmann

Studierende des Lehrstuhls „Kulturwissenschaft der Mode und des Textilen“ der Universität Paderborn besuchten in den vergangenen Monaten mehrfach das Diözesanmuseum, um textile Objekte der Sammlung genauer in Augenschein zu nehmen. Altardecke, Kelchvelum und Pontifikalhandschuhe wurden genau analysiert, beschrieben, fotografiert und mit den im Museum vorliegenden Informationen abgeglichen.

Die Wahl der Studentin Katharina Kaiser fiel auf ein kleines, zunächst unscheinbares Objekt. Ihre Arbeitsschritte und die überraschenden Forschungsergebnisse hat sie in diesem Blogbeitrag zusammengefasst.

In die Hand genommen…

Das Seidenpapier raschelt unter den vorsichtigen Berührungen der behandschuhten Hände. Zum Vorschein kommt ein etwa handgroßes, beiges Stück Stoff. Das schwarze Druckmotiv ist durch eine lachsfarbene Kreuzstich-Stickerei umrandet, welche wiederum durch eine Borte aus gelbem und blauem Garn eingefasst wird. Insgesamt ist die Textilie stark ausgeblichen, wobei die Vorderseite stärker betroffen ist als die Rückseite – was früher vielleicht einmal ein Rot war, erscheint nun in einem zarten Rosa oder Beige. Zudem ist die Textilie beschädigt: Am oberen linken Rand fehlt ein Stück, geradeso, als wäre es herausgerissen worden…

Fragen über Fragen

Diese kleine rechteckige Textilie ruft viele Fragezeichen hervor. Die erste Schwierigkeit stellt sich dem Betrachter bereits bei der Einordnung: Was soll dieses Stück Stoff überhaupt sein? Welchen Nutzen hatte es, bevor es seinem ursprünglichen Gebrauch enthoben und in die Museumssammlung aufgenommen wurde? Was ist auf dem Stoff dargestellt und welche Bedeutungen sind dadurch abzuleiten?

Der erste Schritt zur Beantwortung dieser Fragen führte über die genaue Betrachtung der Materialität des Objektes. Denn durch die Untersuchung seiner Stofflichkeit, der Verarbeitungstechniken, der Farbigkeit und seines Zustandes können in vielen Fällen bereits wichtige Hinweise zum Entstehungs- und Nutzungszusammenhang gesammelt werden.

Das missverstandene Objekt

Die Informationen, die anfangs zu diesem Objekt vorlagen, waren dürftig und uneindeutig. Weder über Materialität und Technik noch über das Dargestellte lagen gesicherte Informationen vor – geschweige denn über die Datierung oder den Hersteller. Die Inventarkarte(n) gab(en) jedoch darüber Auskunft, dass das Museum die Textilie im Jahre 1915 von einem „Fräulein Krahn“ aus Paderborn erworben hatte. Interessanterweise verzeichnet der Jahresbericht des Diözesanmuseums für das entsprechende Jahr bei der Auflistung der Objektankäufe „zwei Reliquientaschen, gestickt und gedruckt“. Das Objekt wurde von den Beteiligten also als ‚Reliquientasche‘ identifiziert und nicht als Einzelstück angekauft, sondern im Doppelpack. Die zweite ‚Tasche‘ ist heute allerdings leider nicht mehr aufzufinden. Ein Umstand, der die Einordnung der Textilie zusätzlich erschwerte. Doch gleichzeitig war dies ein entscheidender Hinweis für die Vermutung, dass es sich bei dem untersuchten Objekt um einen Teil eines sog. kleinen Skapuliers handeln könnte – und eben nicht um eine Reliquientasche!

alte Inventarkarte, Diözesanmuseum Paderborn
"How to waer a scapular"

Skapulier für Laien

Das kleine Skapulier ist ein Sakramentale, d.h. ein sakramentales Zeichen, dessen Wirkung auf der Weihe durch einen Priester und dem Vertrauen des Gläubigen beruht. Abgeleitet ist es von dem großen Skapulier (v. lat. scapula, Schulterblatt), welches Bestandteil vieler Ordenstrachten ist: ein rechteckiger Überwurf mit Kopfloch, welcher vorne und hinten am Träger herabhängt. Die verkleinerte Form des Skapuliers, zwei rechteckige Stoffstücke, die unter der Kleidung durch ein Band verbunden beim Träger auf Brust und Rücken aufliegen, ist v.a. ein Devotionszeichen der sog. Dritten Orden und religiöser Bruder- und Schwesternschaften. Mit dem kleinen Skapulier wird also von Laien die Verbundenheit zu einem bestimmten Orden symbolisiert und/oder mit seinem Tragen werden Gnadenverheißungen und Ablasszusagen verbunden. Aufgrund einer tradierten Vision des später heiliggesprochenen Karmeliter-Mönchs Simon Stock aus dem Jahre 1251 erlangte das Skapulier der Karmeliten die größte Bekanntheit und Verbreitung. In dieser Vision erhielt der Mönch ein braunes Skapulier von der Gottesmutter Maria zusammen mit dem Versprechen, dass der Träger unter ihrem besonderen Schutz stehe.

Entschlüsselung durch Vergleichsobjekte

Die These, dass es sich bei dem ausgewählten Objekt um ein Skapulier handelt, konnte durch eine Recherche in mehreren digitalen Museumsdatenbanken bestätigt werden. In der Sammlung des Londoner Victoria and Albert Museums konnten drei Skapuliere ausfindig gemacht werden, die durch ihre starke Ähnlichkeit als Vergleichsobjekte in Frage kommen. Sie werden in das 18. Jahrhundert datiert und sind deutscher Herkunft. Auf allen drei Objekten findet man das Kopfportrait eines Heiligen wieder, der durch zwei Engel gekrönt wird. Er wird mit seitlich gedrehtem Kopf, geschlossenen Augen, Schnittverletzung und Kopfbedeckung dargestellt. Ebenso halten die beiden Engel unterhalb des Kopfportraits kleine Skapuliere in den Händen. Die Übereinstimmungen in den Darstellungen sind so exakt, dass von einer gemeinsamen Vorlage ausgegangen werden muss. Anders als bei dem Objekt des Diözesanmuseums sind die Schriftzüge auf diesen Skapulieren noch vollständig lesbar. Die Vergleichsobjekte tragen den Schriftzug „S. ANASTASI Mar Ord Carmeli“. Es wird also auf den Heiligen Anastasius verwiesen, welcher eine besondere Rolle im Martyrologium des Karmeliterordens spielt. Auf diese Weise konnte der Dargestellte auch auf dem untersuchten Objekt aus Paderborn eindeutig als der Heilige Anastasius identifiziert werden. Die schlecht erhaltene Beischrift kann nun als „S. Anastasius Carm. […]“ gelesen werden.

Vergleichsobjekt: Skapulier, Deutschland 18. Jh., bedruckte Seide, V&A Museum
Vergleichsobjekt: Skapulier, Deutschland 18. Jh., bedruckte Seide, V&A Museum
Vergleichsobjekt: Skapulier, Deutschland 18. Jh., bedruckte Seide, V&A Museum

Der Heilige Anastasius

Anastasius, genannt Anastasius der Perser, dessen früherer Name Magundat gewesen sein soll, war der Überlieferung nach ein Soldat der Kavallerie in der Armee des persischen Königs Chosraus II. Die Erbeutung des Kreuzes Christi aus Jerusalem und das Massaker an den dortigen Christen durch die persische Armee soll ihn im Jahre 620 zur Taufe bewegt haben. Sieben Jahre nach seinem Eintritt in ein Kloster soll er aufgrund einer Vision dieses wieder verlassen und schließlich durch die Perser gefangen genommen und gefoltert worden sein. Sein Martyrium erlitt er schließlich am 22. Januar 628 in Bethsaloe, einer Stadt im heutigen Irak, wo er erhängt worden sein soll. Mit dem Wissen, dass es sich bei dem Abgebildeten um den Heiligen Anastasius handelt, wird auch die Kopfbedeckung, die er trägt, sinnfällig. Denn sie lässt sich auf diese Weise als sog. phrygische Mütze interpretieren, die auf seine persische Herkunft verweist.

Offene Fragen

Die Recherche und der daraus folgende Abgleich mit den Objekten des Victoria and Albert Museums waren für die Beantwortung der eingangs gestellten Fragen ausschlaggebend. Doch auch wenn die grundlegenden Fragen an das Objekt geklärt wurden, bleibt die Ungewissheit, die seinen Nutzungskontext und die damit verbundenen Bedeutungszuschreibungen betrifft: Wurde das Objekt tatsächlich im Sinne eines Skapuliers gebraucht? Wie kam es dazu, dass es schließlich als ‚Reliquientasche‘ angekauft worden ist? Wie und warum hat sich der Gebrauchszusammenhang im Laufe der Zeit verändert? Die Beobachtungen der materiellen Untersuchung zu der Beschädigung und dem Ausbleichen des Objektes können an dieser Stelle interessante Indizien liefern und öffnen das Feld für weitere Analysen und neue Thesen.

 

Ein Text von Katharina Kaiser

Das Diözesanmuseum Paderborn zeigt gemeinsam mit dem Stadtmuseum Paderborn noch bis zum 12. Februar die Ausstellung „Museumsstoff – Textilien im Museum“. Zu sehen sind neben dem erforschten Skapulier auch die anderen im Seminar behandelten textilen Objekte sowie die Forschungsergebnisse.

Ein Besuch lohnt sich!

 

Objektdaten und -beschreibung

  • Titel/Inventarnummer: T 032
  • Funktion/Anlass: (kleines) Skapulier, entsprechendes Gegenstück ist nicht mehr vorhanden
  • Datierung: wahrscheinlich 18. Jahrhundert; Erwerb durch das Diözesanmuseum im Jahre 1915
  • Beschreibung: rechteckiges, handgroßes, flaches Textil, bedruckt und bestickt
  • Maße: Länge: 9,4 cm       Breite 7,6 cm
  • Material: Seide
  • Technik: Leinwandbindung; Nähen
  • Farbigkeit: vermutlich ursprünglich roter Stoff, jedoch stark ausgeblichen, Vorderseite jetzt beige, Hinterseite rosa
  • Muster: schwarzer Druck zeigt Kopfstück des Heiligen Anastasius im Viertelprofil mit geschlossenen Augen, er hat eine Schnittverletzung auf der Stirn, drei Blutstropfen werden dargestellt, er trägt eine Kopfbedeckung; Portrait durch eine ovale Umrandung eingefasst, Oval von Blumenranken umgeben; oben zur Rechten und Linken des Kopfes zwei Engel, die im Begriff sind den Heiligen mit einer Bügelkrone zu krönen, unten zur Rechten und Linken zwei Engel, die jeweils mit einer Hand das Oval zu tragen scheinen und in der anderen Hand kleine Skapuliere halten; ganz unten ein Schriftband mit der Inschrift: „S. Anastasius Carm. […]“
  • Verzierung: Druck durch einen einfachen Hexenstich/Kreuzstich eingerahmt, verzwirntes Garn, Seide, vermutlich ursprünglich rot, ausgeblichen, jetzt lachsfarben; Stickerei wiederum eingefasst mit Borte, gelbes und blaues Garn in Leinwandbindung, Borte hohl angenäht
  • Details/Besonderheiten: handschriftliche Notiz auf der Rückseite des Objektes „1075 b“ (alte Inventarnummer)
  • Zustand: Objekt insgesamt stark ausgeblichen; Beschädigung am linken oberen Rand (Stoff scheint herausgerissen worden zu sein), Loch erlaubt Blick auf innenliegenden Stoff, dieser ist braun, leinwandbindig, evtl. aus Wolle

Literatur

  • Arno Schilson und Rupert Berger: Sakramentalien. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl., Bd. 8. Freiburg im Breisgau 1999, Sp. 1452–1455.
  • Michael Kunzler: Liturgische Kleidung für Laiendienste im Gottesdienst. In: Liturgisches Jahrbuch, Jg. 54, 2004, S. 194.
  • Karl Suso Frank: Skapulier. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9. Freiburg (u.a.) 2000, Sp. 653.
  • Ausführlich zu der Tradition des Skapuliertragens im Karmeliterorden und zu dessen heutigen Gebrauch: Gerd Josef Weisensee: Das Kleid vom Himmel. Eine Einführung in die Wissenschaft des Skapuliertragens. Unter besonderer Berücksichtigung des fünffachen Skapuliers und der dazugehörigen fünf Skapulierbruderschaften. Lauerz 2003. (Es ist zu beachten, dass es sich nicht um wissenschaftliche Literatur handelt. Das Buch kann jedoch als Quelle für die Praktiken des Tragens von heilswirksam geglaubten Skapulieren dienen.)
  • Vergleichbare Schriftzüge:
  • Otto Volk: Anastasios der Perser. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1. Freiburg im Breisgau (u.a.) 1993, Sp. 603.

Bildnachweis

Paderborn feiert Kleinlibori und damit die Rückkehr der 1622 geraubten Reliquien des hl. Liborius nach Paderborn am 31. Oktober 1627.

Wie kann es sein, dass jahrhundertealte Knochen noch heute eine ganze Stadt in Freude versetzen? Wie entwickelte sich die Reliquienverehrung in Paderborn und was genau ist eigentlich eine Reliquientranslation?

Liane Janzen hat sich genau diese Fragen gestellt. Die Studentin der Kunstwissenschaften in Würzburg hat im Sommer ein mehrwöchiges Praktikum im Diözesanmuseum absolviert – in einem Haus, dessen Sammlung zahlreiche Heiligendarstellungen und Reliquiare bewahrt. Ihre Recherchen hat sie in diesem Blogbeitrag zusammengefasst.

Die Anfänge der Reliquienverehrung

In der Antike war im Römischen Reich die Totenverehrung sehr wichtig: An bestimmten Tagen traf sich die Familie und gedachte ihrer Verstorbenen. Die Christen nahmen diese Tradition auf und besuchten die Gräber ihrer hingerichteten Glaubensgeschwister, die als Märtyrer für ihren Glauben gestorben und daher direkt in die göttliche Herrlichkeit aufgenommen worden waren. Unter Kaiser Konstantin I. (270/280 – 337) endete die Christenverfolgung mit dem Toleranzedikt von Mailand 313, und viele der daraufhin errichteten Kirchen wurden über den Gräbern von Märtyrern gebaut (z.B. der Petersdom in Rom über dem Grab des Apostels Petrus). Gab es keine eigenen Heiligengräber, bewahrte man stattdessen – wie auch heute noch – Partikel von Gebeinen der Heiligen unter dem Altar auf. Der Wunsch, den Wunder wirkenden Heiligen auch nach deren Tod nah zu sein, war die Geburtsstunde der Reliquienverehrung.

Mit der Ausbreitung des Christentums und dessen Tolerierung endeten die Christenverfolgungen im Römischen Reich und so nahm auch die Zahl der Märtyrer schlagartig ab. Auf der anderen Seite stieg die Nachfrage nach Heiligenreliquien stetig an. Um dieser Nachfrage nachkommen zu können, billigte man im 8. Jahrhundert die Zerteilung von Heiligengebeinen. Zuvor waren einzelne Teile von sterblichen Überresten der Märtyrer nur dann an verschiedene Kirchen verteilt worden, wenn die Leichname bereits durch die Hinrichtung zertrennt worden waren. Diese geänderte Auffassung im Umgang mit den sterblichen Überresten der Heiligen wurde damit begründet, dass auch in den kleinsten Partikeln die gesamte Wunderkraft der Heiligen enthalten sei. Zudem wurden auch nicht-leibliche Reliquien als vollwertige Reliquien anerkannt, so beispielsweise Gegenstände, die von den Heiligen berührt worden waren, die daher als Berührungs- oder Sekundärreliquien bezeichnet werden. Zu den Märtyrern treten mit dem Ende der Christenverfolgungen die Bekenner hinzu, die durch ihr Leben, jedoch nicht durch einen gewaltsamen Tod ein Zeugnis ihres tiefen Glaubens abgegeben haben. Als erster heiliger Bekenner gilt Bischof Martin von Tours (†397).

Maria, Kilian und Liborius – frühe Reliquienverehrung in Paderborn

Bei der Weihe von Kirchen wurden diese auch dem Schutz bestimmter Heiliger anvertraut. So wurde der erste Dom Paderborns von Papst Leo III. im Jahr 799 den Heiligen Maria und Kilian geweiht. Das Marien-Patrozinium sollte die Zusammengehörigkeit zur universalen christlichen Kirche betonen – Karl der Große höchstpersönlich stiftete Haare der Jungfrau Maria anlässlich der Domweihe. Das Patrozinium des hl. Kilian geht zurück auf die Herkunft der Glaubensboten aus dem mit der Missionierung beauftragten Bistum Würzburg, wo der Heilige bis heute als Frankenapostel und Bistumspatron verehrt wird.

Unter Paderborns zweitem Bischof Badurad (815–862) wurde die Missionierung des ostwestfälischen Raumes weiter vorangetrieben. Damals waren schon viele der hier ansässigen Sachsen getauft, aber es mangelte oft an einem tieferen Verständnis der Grundlagen des christlichen Glaubens. Daher bemühte sich Badurad darum, Reliquien eines Heiligen als lokalen Patron für sein Bistum zu erhalten. Diese Reliquien eines wundervollbringenden Heiligen sollten die Priester darin unterstützen, die Menschen von der Kraft des neuen Glaubens zu überzeugen. 836 wurden die Reliquien des hl. Liborius am Pfingstsonntag feierlich empfangen. Zusätzlich bot ein eigener vollständiger Heiligenleib das Potential für eine neue lokale Identität.

Seit der Übertragung der Gebeine des hl. Liborius im Jahre 836 besteht eine Gebetsverbrüderung mit dem Domkapitel von Le Mans, die als die älteste Städtefreundschaft Europas gilt. Ein Arm des hl. Liborius verblieb in Le Mans, während der Rest des Körpers ab 836 in Paderborn in einem Heiligengrab in der Krypta unter dem Westchor des Domes verehrt wurde. Am Festtag des hl. Liborius, am 23. Juli, wird bis heute in beiden Diözesen an den gemeinsam verehrten Heiligen gedacht.

Reliquienstutuette des hl. Liborius, Westfalen (?), 1. Viertel 14. Jahrhundert

Reliquien als wirtschaftliches und strategisches Mittel

Eine Begleiterscheinung kirchlicher Festtage waren größere Märkte, Jahrmärkte, zu denen Händler über mehrere Tage ihre Waren anboten. Häufig kamen zum Marktprivileg im Laufe der Zeit weitere Rechte wie z. B. die Erlaubnis, eigene Gerichte abzuhalten oder Münzen zu prägen. Solche Privilegien trugen zur Beliebtheit von Städten mit Heiligengräbern bei. Die Kombination von Reliquien und bezeugten Wundern konnte dazu führen, dass Wallfahrtsorte entstanden, zu denen Menschen pilgerten, um gesund zu werden oder um Buße zu tun. Entlang der Wallfahrtsrouten entstanden Kirchen, die besonders beliebten Heiligen geweiht waren. Meistens entstanden an solchen Wallfahrtsorten ganze Sammlungen von Reliquien, die dafür sorgten, dass immer mehr Pilger an diese Orte strömten. Daraus erwuchsen natürlich auch wirtschaftliche Vorteile für die Ortsbewohner und vor allem für die Kirchen und ihre Institutionen.

Dennoch waren es nicht allein wirtschaftliche Motive, die den Reliquienerwerb vorantrieben. Das Prestige, im Besitz von Reliquien zu sein, diese zu stiften oder unter ihrem Schutz zu stehen, waren große Motivatoren. So wurden zum Abschluss von Friedensschlüssen manchmal auch Reliquien verschenkt, um zu unterstreichen, wie ernst man es mit dem Frieden meinte. Ein Armreliquiar des hl. Vitus, der u. a. im Kloster Corvey verehrt wird, wurde 929 von König Heinrich I. an den böhmischen Herzog Wenzel überreicht, als sie Frieden schlossen. Zugleich hatte sich der Böhme bereit erklärt, zum Christentum zu konvertieren. Aber auch zum Abschluss von Verträgen wurden Reliquien verschenkt, um zu garantieren, dass man einander mit Rat, Tat, benötigter Hilfe oder durch Gebete unterstützen würde. Ein geleisteter Eid auf Reliquien sollte ebenfalls die Einhaltung des Versprechens versichern. Man fürchtete sich vor der Strafe der Heiligen, sollte man eidbrüchig werden.

Grete Spuida, Liborius-Wandbehang, Detmold, 1949

Von Le Mans nach Paderborn – die Translation der Gebeine des hl. Liborius

Da Reliquien schon innerhalb der ersten Jahrhunderte sehr begehrt waren, wurden Bestimmungen erlassen, um die Reliquienverteilung zu regeln. Der Handel mit Reliquien war grundsätzlich verboten, wenn er sich auch nicht immer ganz unterbinden ließ. Nur hochrangige Personen wie Päpste, Bischöfe, Kaiser oder Könige konnten die Translationen (feierliche Überführung von Reliquien von einem Ort zum anderen) von Heiligengebeine erlauben und veranlassen.

Bischof Badurad holte von Kaiser Ludwig I. (reg. 814–840) die Erlaubnis ein, Reliquien von einem heiligen Bischof aus Le Mans nach Paderborn bringen zu lassen. 836 machte sich eine Gesandtschaft von Paderborn nach Le Mans auf den Weg. Dort fiel die Wahl auf den hl. Liborius. Er gehörte zu den frühen Bischöfen von Le Mans und lebte im 4. Jh. Angeblich umfasste seine Amtszeit eine Spanne von 49 Jahren. Freundschaftlichen Kontakt gab es während seiner Amtszeit zur benachbarten Bischofsstadt von Tours, wo der hl. Martin (†397) lebte und Wunder wirkte. Die Bischöfe von Le Mans wurden damals außerhalb der Stadt zusammen mit weiteren Geistlichen in der Apostelkirche zur Ruhe gelegt. Als die Paderborner Gesandten kamen, fanden sie dort viele christliche Würdenträger vor, auch die Gebeine der Bischöfe Pavacius und Turibius wurden ausgewählt.

Die Reise der Paderborner Gesandtschaft dauerte vier Wochen und ist gut dokumentiert. Es liegen vier Translationsberichte vor, von denen drei sogar noch aus dem 9. Jh. stammen. Ein Pfau soll der Gesandtschaft voran geflogen sein, was als göttliches Einverständnis für die Translation des hl. Liborius gewertet wurde. Aufgrund dieser Legende wird Liborius auch mit einem Pfau dargestellt. In Italien und Gallien wurden Pfauenfederfächer im Gottesdienst dazu genutzt, um Insekten zu vertreiben. Wahrscheinlich brachten die Gesandten solche Wedel mit und daraus entstand diese Legende. Die Gesandtschaft traf am 28. Mai 836, dem Pfingstsonntag, in Paderborn ein und wurde mit Jubel empfangen. Seit dem 9. Jahrhundert ist die Feier des Hochfestes des heiligen Liborius am 23. Juli für das Bistum Paderborn überliefert. Am ersten Samstag nach dem 23. Juli beginnt bis heute das 9-tägige Libori-Fest mit Kirmes und diversen Attraktionen, bei der sich geistliche und weltliche Programmpunkte abwechseln.

Der Reliquienraub 1622 und der neue Schrein

Um den Gläubigen den Wert der Reliquien zu verdeutlichen, wurden sie in kostbaren Behältnissen aufbewahrt, die Reliquiare heißen. Sie tauchen in unterschiedlichen Größen und Formen auf. Seit dem 11. Jahrhundert wurde es üblich, vollständige Heiligenleiber in hausförmigen Reliquienschreinen zu bergen.

Auch für Paderborn ist für das spätere 11. Jahrhundert ein solcher goldener Heiligenschrein für den – seit 1023 als Schutzpatron des Doms bezeugten – hl. Liborius überliefert. 1622 plünderten Landsknechte des Herzogs Christian von Braunschweig den Paderborner Domschatz und raubten den Reliquienschrein des hl. Liborius. Der evangelische Herzog ließ den Schrein einschmelzen und aus dem Edelmetall Münzen prägen. Auf diesen stand: „Gottes Freundt, der Pfaffen Feindt“ – die sogenannten Pfaffenfeindtaler. Die entführten Liborius-Reliquien kehrten schließlich nach fünfjähriger Odyssee am 25. Oktober 1627 nach Paderborn zurück. An die Rückkehr der Gebeine wird daher bis heute am 25. Oktober mit dem Kleinlibori-Fest gedacht. Der Goldschmied Hans Krako (1587–1648) aus Dringenberg arbeitete von 1625 bis 1627 an der Fertigung eines neuen Reliquienschreins. Dieser wird heute im Diözesanmuseum aufbewahrt.

Schmalseite des Schreins mit Kreuzigungsszene und zwei Pfaffenfeindtalern
Hans Krako, Schrein des hl. Liborius, Dringenberg, 1625-1627

Der Kern des Schreins besteht aus Holz und ist mit vergoldeten Silberdekor beschlagen, hinzu kommen noch einige Elemente aus vergoldeter Bronze. Im Innern ist der Schrein mit Samt ausgeschlagen, um die Reliquien würdig aufzunehmen. Der Aufbau des Schreins ist einer Saalkirche nachempfunden. Dies hat mehrere Gründe, zum einem orientierte sich Hans Krako an älteren Vorbildern, und zum anderen wird die Gemeinde mit einem Haus in der Bibel verglichen. Die zwölf Apostel stehen zusammen mit ihren jeweiligen Attributen als Stützen des Christentums in den Nischen an den Langseiten. Unter den Figuren stehen die Namen der Heiligen wie z. B. der Hl. Petrus mit dem Schlüssel oder der Hl. Andreas mit dem X-förmigen Kreuz (Andreaskreuz). Dabei wurden die Säulen mit den korinthischen Kapitellen und dem Muschelmotiv in den Nischen nach dem aktuellen Geschmack der Spätrenaissance gestaltet.

An der vorderen Giebelseite befindet sich eine Darstellung der Kreuzigung Christi mit vollplastischen Figuren des Gekreuzigten, seiner Mutter Maria und des Apostel Johannes. Die Darstellung der übrigen Szenerie des Kalvarienbergs ist als zartes Relief gestaltet. Im darüber liegenden Giebel ist eine Madonna zu sehen. Auf der rückwärtigen Giebelseite ist eine Inschrift mit den Namen des Stifterehepaars Wilhelm  Westphal und Elisabeth von Loe angebracht. Sie organisierten eine Spendensammlung für die Anschaffung eines neuen Schreins. Das kinderlose Paar erhoffte sich von ihrem frommen Werk die Geburt eines Sohnes, obwohl sie schon im fortgeschrittenen Alter waren. Um an die Vernichtung des Vorgängerschreins zu erinnern, arbeitete der Goldschmied zwei Pfaffenfeindtaler ein. Im Giebelfeld wird Maria von Christus und Gottvater zur Himmelskönigin gekrönt, darüber schwebt die Heiliggeisttaube. Dahinter ist das Wappen der Stifter eingraviert. Die beiden Giebel werden von zwei Kreuzen mit Strahlenkranz bekrönt.

An den Ecken des umlaufenden Gesimses sind die vier Evangelisten mit ihren Symboltieren angebracht, Matthäus mit dem Engel, Markus mit dem Löwen, Lukas mit dem Stier und Johannes mit dem Adler. An den Seiten des Daches sind in runden Medaillons die vier lateinischen Kirchenväter in Relief wiedergegeben. Die Lehren von Augustinus, Ambrosius, Gregor dem Großen und Hieronymus beeinflussten die Theologie für Jahrhunderte bis heute. Die Dachflächen dominieren jedoch zwei Liegefiguren im Bischofsornat: Auf der einen Seite der hl. Kilian, er hält in der rechten Hand einen Palmenzweig und in der linken Hand ein aufgeschlagenes Buch. Auf der anderen Seite ist der hl. Liborius abgebildet. In seinen Händen hält er einen Bischofsstab und ein Buch mit drei Kugeln darauf, die Nieren- oder Gallensteine darstellen sollen. 19 Figuren von Heiligen bevölkern in regelmäßigen Abständen den Dachfirst und die Traufzone. Sie sind ebenfalls bekannte Fürbitter, von denen sich die Gläubigen Beistand erhofften.

Die Zwischenräume sind mit geflügelten Engelsköpfen, aufwändigen Ranken und Blumen gefüllt. Kränze und Bänder setzen einzelne Partien voneinander ab. Hans Krako wendete unterschiedliche Techniken an, um diesen prachtvollen Reliquienschrein herzustellen. Der Aufbau orientiert sich am Vorgängerschrein und an romanischen Schreinen, die sich bis heute im rheinischen Raum erhalten haben. Dabei wurden die traditionellen mit aktuellen Formen kombiniert, was kein ungewöhnliches Vorgehen war. Die alljährlichen Prozessionen zu Großlibori und zu Kleinlibori sind die einzigen Anlässe, an denen der Schrein heutzutage das Museum verlässt. Um die Details in Ruhe betrachten zu können, empfiehlt sich ein Besuch in der Schatzkammer-Ausstellung des Diözesanmuseums außerhalb der Liborius-Feierlichkeiten.

 

Liane Janzen

Literatur- und Quellenhinweise:

  • Günter Beaugrand (Hg.): Sankt Liborius – Schutzpatron im Strom der Zeit. Paderborn 1997
  • De Vry, Volker: Liborius, Brückenbauer Europas. Die mittelalterlichen Viten und Translationsberichte. Mit einem Anhang der Manuscripta Liboriana. Paderborn/München/Wien/Zürich 1997.
  • Heinzelmann, Martin: Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes. Turnhout 1997. S. 17 – 125.
  • Heinzelmann, Martin: Translation. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, S. 947 – 949.
  • Herbers, Klaus: Bemerkungen zu Reliquientranslationen im frühen Mittelalter. In: Mayr, Markus (Hg.): Von Goldenen Gebeinen. Wirtschaft und Reliquien im Mittelalter. Innsbruck 2001, S. 221 – 230.
  • Stiegemann, Christoph / Kroker, Martin / Walter, Wolfgang (Hg.): Credo. Christanisierung Europas im Mittelalter. Band I. Essays. Petersberg
  • Stiegemann, Christoph und Ruhmann, Christiane (Hg.): Credo. Christianisierung Europas im Mittelalter. Band III. Beiträge zur Ausstellung. Paderborn 2017
  • Stiegemann, Christoph (Hg.): Diözesanmuseum Paderborn. Werke in Auswahl. Petersberg 2014.
  • Wenz–Haubfleisch, Annegret: Reliquientranslation und Beziehungsnetz. In: Thumser, Matthias u. a. (Hg.): Studien zur Geschichte des Mittelalters. Stuttgart 2000, S. 100 – 121.
  • www.rdklabor.de https://kurzelinks.de/l3gq (letzter Zugriff 26.10.22)

 

Bildnachweis:

Alle Abbildungen: Diözesanmuseum Paderborn, Foto Ansgar Hoffmann

(Das Titelbild zeigt die Reliquienschau im Tragaltar des Paderborner Doms mit einer Reliquie des hl. Liborius)

Eine Begegnung.

Es ist Gabriel, der unsere Blicke dirigiert. Die schlichte, schöne Holzfigur des Erzengels steht umgeben von bildgewordener Musik am Anfang der Ausstellung „SO GESEHEN – Barbara Klemm · Christoph Brech“. Dirigentenporträts, Wolkenbilder und filigrane Klangwolken umgeben die Skulptur. Über allem schwebt auf riesiger Leinwand visualisierte Musik im hohen, weißen Museumsraum – Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 5 cis-Moll. Ein grafisch anmutendes Video zeigt die in der Realität unsichtbaren Linien, die die Hände des Dirigenten beschreiben. Per Kopfhörer kann man hören was man sieht.

Wer das Paderborner Diözesanmuseum kennt, hier in den letzten Jahrzehnten die großen kunsthistorischen Ausstellungen besucht hat, wird das Haus völlig neu erleben. Die offene, schlichte und elegante Architektur mit ihren aufstrebenden Ebenen ist erstmals pur zu sehen. Ein luftiger Raum, ideal für die zeitgenössische Foto- und Videokunst von Barbara Klemm und Christoph Brech und für einen neuen Blick auf eine kleine Auswahl von Exponaten aus der Sammlung des Hauses.

Engel aus der Verkündigung an Maria. Franz Ignaz Günther (Werkstatt). 3. Drittel 18. Jh.; Barbara Klemm, György Ligeti, 1977
Barbara Klemm und Christoph Brech in der Ausstellung „SO GESEHEN"

Neue Sichtweisen

„Es ist eine Freude, dass wir die Chance bekommen haben, in diesem tollen Haus – das nicht leicht zu bespielen ist – etwas gemeinsam zu gestalten“, sagt Barbara Klemm. „Und da wir beide ein großes Konvolut von Bildern haben, war es nicht schwer, Arbeiten zu finden, die miteinander korrespondieren oder Ähnlichkeiten zeigen.“ Die Grande Dame der politischen und gesellschaftlichen Fotografie hat Jahrzehnte lang für die Frankfurter Allgemeine Zeitung das Weltgeschehen mit der Kamera beobachtet und Fotos geschaffen, die Teil unseres kollektiven Bildgedächtnisses geworden sind. Wer aber im Diözesanmseum ihre Bildikonen wie den legendären Bruderkuss von Breschnew und Honecker erwartet, sucht vergebens. In Paderborn zeigt sie eine andere Seite ihres Schaffens.

Auch Christoph Brech, dessen Arbeiten schon in mehreren Ausstellungen im Diözesanmuseum zu sehen waren, setzt neue Schwerpunkte.

Zu acht Themen – darunter Inspiration, Dialog, Menschen im Museum oder letzte Bilder – finden die analogen Schwarz-Weiß-Fotografien von Barbara Klemm und die zumeist farbigen, digitalen Fotos und Videos von Christoph Brech zusammen. Sie korrespondieren und interagieren auf besondere Weise miteinander. Da ist das Innere einer venezianischen Kirche neben einem Foto des ägyptischen Tempels von Abu Simbel zu sehen. Die geheimnisvolle, beinahe mystische Stimmung, das Licht, die Bildkompositionen schaffen eine Verbindung beider Werke.

Barbara Klemm, Abu Simbel, Ägypten, 2010
Christoph Brech, Santa Maria Gloriosa dei Frari, Venedig, 2019

Korrespondenzen zwischen Malerei und Dunkelkammer

„Es ist, glaube ich, ein ganz spannender Dialog geworden“, sagt Christoph Brech, „auch wenn es nicht immer wie ein Dialog aussieht. Total interessant war es, Bilder, die wir beide im Abstand von einigen Jahren beispielsweise in Rom fotografiert haben, nebeneinander zu stellen.“ So ist der Fuß einer antiken Kolossalstatue, der im Hof der Kapitolonischen Museen aufbewahrt wird, jetzt zweifach zu sehen. Bei Christoph Brech wird er im farbigen Querformat seiner Größe beraubt und wirkt im Kontext einer Baustelle wie ein Objekt im Setzkasten. Bei Barbara Klemm erscheint er übermächtig im schwarz-weißen Hochformat. Schwarzweiß ist Farbe genug, hat sie einmal gesagt und erklärt uns, warum sie noch heute selbst in der Dunkelkammer steht: „Ich vergrößere meine Aufnahmen selber – das habe ich bei allen meinen Ausstellungen so gemacht und auch schon in meiner Zeit bei der FAZ, wenn sie zum Beispiel für die Tiefdruck-Beilage bestimmt waren. Ein Bild kann ja ganz langweilig aussehen, wenn die Tonwerte nicht richtig stimmen, sie sind das A und O und so ist auch jeder Abzug ein Original.“ Mitunter wirken Barbara Klemms Fotografien wie Gemälde und auch bei Christoph Brech ist seine Nähe zur Malerei unverkennbar. „Ich habe von einem Tag auf den anderen aufgehört zu malen, als ich das Medium Film für mich entdeckt habe, insbesondere die dritte Spur, die Tonspur. Aber ich habe Malerei studiert und auch gelehrt. Mit 15, 16, 17 habe ich jeden Tag gemalt, das ist ein Teil von meinem Leben. Man bekommt ein Gespür für Farben und für die Aufteilung von Formaten. Heute interessieren mich bestimmte Farbsituationen, die ich entdecke – ohne Filter – und da kommt dann wieder etwas Malerische hinein.“

Barbara Klemm, Kapitolinisches Museum, Rom, 2016
Christoph Brech, Musei Capitolini, Rom, 2013

Allein das Zusammentreffen zweier technisch so unterschiedlich arbeitender Künstler:innen in einer Ausstellung ist nicht naheliegend. Doch es ist augenfällig, dass ihnen die Konzentration auf Weniges, auf Wesentliches, auch eine Art Minimalismus gemeinsam ist. „Ich habe mich noch nie so intensiv mit dem Werk eines anderen Künstlers auseinandergesetzt, wie jetzt mit den Arbeiten von Barbara Klemm“, sagt Christoph Brech. „Wenn ich zurückschaue auf die letzten Wochen, war das eine großartige Inspiration und eine Energiequelle.“

Engel-Begegnungen

Frage an die Kuratorin: Frau Ruhmann, wie ist diese Ausstellung entstanden? Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dass sich hier Schnittmengen und auch Beziehungen zur Kunst Ihrer Museumssammlung ergeben könnten? „Bereits 2017, als Barbara Klemm eine Ausstellung von Christoph Brech in unserem Museum besuchte, fiel mir auf, wie gut die beiden korrelieren, wie neugierig und offen beide auf neue Situationen zugehen. Als es nun klappte, ergab sich alles auf fast organische Weise. Beide verfügen über ein immenses und vor allem breit gefasstes Oeuvre. Ich war vor allem gespannt auf die Wirkung der Werke in unserem Haus, das ja mit seinen sich nach oben windenden Galerien und den zahlreichen Durchblicken nicht einfach zu bespielen ist.“

„Als wir zum ersten Mal mit dem Bewusstsein durch das Haus gingen, dass wir hier zusammen ausstellen könnten“, ergänzt Barbara Klemm, „war es unglaublich spannend, wie schnell konkrete Ideen entstanden sind. Wie sollte der Aufbau aussehen? Was könnten wir zeigen? Christiane Ruhmann hatte da schon meine Rostocker Engel im Kopf und ich dachte zuerst, die passen überhaupt nicht hier hin, aber sie passen ganz wunderbar. Also das waren die Momente, wo ich dachte, das kann nicht schiefgehen, das muss eine schöne Ausstellung werden.“

Fotografie von Barbara Klemm, umgeben vom Libori-Festaltar (1736)
Barbara Klemm, Trapezkünstlerinnen. Rostock, 1974

Barbara Klemms „Rostocker Engel“ sind Trapezkünstlerinnen die vor einer zerstörten, tristen Häuserzeile, gehalten von dicken Seilen über der Stadt zu schweben scheinen. Eine Momentaufnahme, eine eingefrorene Bewegung, die eine ganze Geschichte erzählt. Es ist das einzige Werk in der Ausstellung bei dem Barbara Klemm das für sie typische Format von 30 x 40 Zentimetern verlassen hat. „Es musste einfach größer sein“, sagt sie. Das Foto wird hier zum Teil einer raumgreifenden Installation mit den glänzenden Engeln und den lebensgroßen Allegorien des barocken Libori-Festaltars. Ein Kontrast der den Blick weitet und irdische Beziehungen aufscheinen lässt.

Perspektivwechsel

„Man muss natürlich historische Exponate anders erklären als zeitgenössische Kunst, aber man kann die Erklärweisen zeitgenössischer Kunst auch auf solche Werke übertragen“, sagt Christiane Ruhmann. „Es ist eine Chance, ein anderes Verständnis für antike, mittelalterliche oder barocke Kunst zu vermitteln, indem man sie intuitiver kontextualisiert. Wir zeigen den Erzengel Gabriel in der Eingangssituation der Ausstellung ohne Maria — der er ja eigentlich die Botschaft der Menschwerdung Gottes überbringen soll — hier jedoch ist die Aussage gleichzeitig weiter gefasst und näher am heutigen Betrachter: Wie manifestiert sich Geist? Was ist Inspiration? Und das heißt: Diese Figur, die ich da sehe, also die Darstellung des Erzengels Gabriel, bekommt durch die Zusammenschau mit den Werken der beiden Künstler:innen quasi eine neue Bedeutungsdimension, die seinen überkommenen Kontext mit einbezieht, sich aber gleichzeitig für heutige Betrachter:innen öffnet.“

 

Es schwingt wie ein Stück Musik …

Alle ausgewählten Stücke der Sammlung stehen frei, bekommen viel Wirkungsraum und allein das verändert und verstärkt ihre Ausstrahlung. Da hängen Madonnen aus dem 16. Jahrhundert frei und ungestört im Raum, umgeben von minimalistischen, fotografischen Mondstudien und einem Video in Zeitlupe an den weit entfernten Wänden. Gemeinsam erzählen diese Werke eine Geschichte, die nachdenken lässt über Spiritualität, Zeitlosigkeit oder Unendlichkeit. Hier kann alles wirken, allein und gleichzeitig im Kontext. Es ist eine besondere Dramaturgie, meint auch Kuratorin Christiane Ruhmann: „Für mich ist die Ausstellung fast wie ein Musikstück, mal tritt die ‚Melodie‘ des einen hervor, mal die der anderen. Mal laufen die ‚Stimmen‘ im Gleichklang, mal entfernen sie sich voneinander – aber immer bilden sie in einem gemeinsamen Resonanzraum, der mehr ist als seine einzelnen Teile.“

 

Autorin: Waltraud Murauer-Ziebach

Fotos: © Kalle Noltenhans

Blick in die Ausstellung, Themenbereich “Himmelwärts“
Mondsichelmadonna, um 1530 und Videoinstallation „Corona Mond“, 2020, von Christoph Brech
Imad-Madonna (zw. 1051 u. 1058) vor Videoinstallation „Abschied“, 2021, von Christoph Brech

Literaturverzeichnis / Links:

An den Anfang scrollen