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Ein Gemälde offenbart seine Geheimnisse

Tief verborgen unter bunten Farbschichten liegt die Vorzeichnung des Meisters, die nur ihm, seinen Mitarbeitern und den Auftraggebern bekannt war. Sie erfolgte nach dem langwierigen Prozess des Grundierens und vor dem Auftrag der Farbe. Es ist diese Vorzeichnung, welche die persönliche Handschrift des Meisters zeigt. Auch gibt sie Aufschluss über seine bevorzugten Zeichenmaterialien und seine Gedankenprozesse, wenn Proportionen überarbeitet und Ideen verworfen wurden.

Fotograf und Restauratorinnen mit der Apollo-Kamera aus dem Hause Opus Instruments, die die Bilder direkt auf dem Laptop sichtbar macht

Diesen flüchtigen Moment sichtbar zu machen, vermag die Infrarotreflektografie. Infrarotstrahlung kann tiefer als sichtbares Licht in die Malerei eindringen, wo sie von verschiedenen Farbmitteln unterschiedlich absorbiert wird. Mit Hilfe spezieller Detektoren kann dies für unsere Augen sichtbar gemacht werden. Die Firma Opus Instruments war so freundlich, uns ihre neu entwickelte Kamera für Testzwecke zur Verfügung zu stellen. Die Apollo-Kamera detektiert Signale im Wellenlängenbereich von 900-1700 nm.

Dem Meister in die Karten geschaut

Restauratorin Gisela Tilly und Fotograf Ansgar Hoffmann untersuchten mittels Infrarotkamera drei Werke des aus Geseke stammenden Meisters Gert van Lon und seiner Werkstatt. Insbesondere die Vorzeichnung des Gemäldes „Volkreicher Kalvarienberg“ (zurzeit Teil der Sonderausstellung Before the Wind), entstanden um 1520/30 wurde intensiv analysiert.

Die Aufnahmen zeigten Erstaunliches: In einigen Bildbereichen ist ein für van Lon typischer Duktus – also eine für ihn charakteristische Art der Form- und Linienführung – zu erkennen. Der Meister verwendete für seine Vorzeichnung sowohl wässrige Medien (Auftrag durch Pinsel, Feder o.ä.) als auch Stifte, die Abrieb erzeugen (z.B. Kreide). Er zeichnete nicht nur die Umrisse der Gebäude und Figuren vor, er legte auch die Gewandfalten und Architekturdetails an. Schatten von Stoffen oder Inkarnaten (also der Haut) markierte er durch einfache Schraffuren. Viele Details wurden in der späteren malerischen Ausführung leicht verschoben oder ganz weggelassen.

Scätze der Sammlung
Volkreicher Kalvarienberg, 1520-30, Foto: Ansgar Hoffmann

Es folgen hier nun einige Beispiele. Links die graue Infrarotaufnahme, rechts die finale Malerei.

Die heilige Veronika trägt das Schweißtuch, auf dem sich das Gesicht Jesu abgezeichnet hat. Zu der Gruppe hat sich ein rot gewandeter Mann gesellt: Im infraroten Licht erkennt man die Vorzeichnung der Hand, die einem dicken Fäustling gleicht. Auch die Pinsel- oder Federspuren mit ihren typischen „Klecksen“, die beim Auf- und Absetzen entstehen, wurden sichtbar.

Differenzierter angegeben werden die Gewänder der großen Figuren im Vordergrund: Die Puffärmel, die eigentlich vorgesehen waren, erkennt man heute nicht mehr. Der Verlauf der Schatten ist durch einfache Schraffuren wiedergegeben; typisch für van Lon sind auch die kurzen, stakkato-artigen Striche.

Zum Vergleich: die Vorzeichnung eines Tafelgemälde eines fränkischen (?) Meisters aus dem Bestand der Kunsthalle Bielefeld trägt auch bei großformatigen Hauptpersonen eine andere Handschrift. Die Schattenzonen werden hier nicht durch regelmäßige Schraffuren vorbereitet, sondern durch ausgelassenere, weichere oder malerische Linien.

Hinabgestiegen in das Reich des Todes: Jesus errettete die Seelen von Adam und Eva. Die Schatten des Körpers Jesu – insbesondere im Bauchbereich – wurden ebenfalls durch feine schraffierte Linien vorgezeichnet. Betrachtet man den Zeichenduktus, fällt auf, dass die Umrisse von Adam und Eva frei und fließend angelegt sind. Die Komposition von Adams rechten Arm wurde um ein Stück versetzt. Ursprünglich war er weiter rechts angelegt. Hier spricht man von einem Reuestrich oder Pentiment. Gemeint ist eine Veränderung, die der Maler während des Malprozesses vorgenommen hat.

Verkleinerter Torbogen, weggelassenes Dachfenster – Gert van Lon hielt sich bei der Ausführung seines Gemäldes nicht immer an seine Vorzeichnung. Dies ist an den Gebäuden im linken Hintergrund zu beobachten.

An einer Stelle streicht der Künstler sogar eine gesamte Szene. Eine vermeintlich leere Lichtung zwischen Bäumen, Büschen und Steinfelsen offenbart im infraroten Licht eine Personengruppe. Körperformen, Gewänder und sogar Gesichter sind deutlich zu erkennen. Möglicherweise war hier die Darstellung der Grablegung angedacht. Warum auf die Durchführung verzichtet wurde, bleibt derzeit ein Rätsel.

Resümee & Ausblick

Dies sind die Ergebnisse eines Testdurchlaufes, in dessen Rahmen längst nicht alle technischen Möglichkeiten der Kamera genutzt werden konnten. Die bisherigen Erkenntnisse untermauern jedoch den Nutzen der Infrarotreflektographie, die auch Auskunft über den Erhaltungszustand allgemein, den Pinselduktus der durchgeführten Malerei und Retuschen geben kann.

Alle Beobachtungen können helfen, ein Werk besser zu verstehen und eine Zusammenarbeit von Meistern und Gehilfen sowie anderen Künstlern verfolgen zu können. Somit erfahren Zuschreibungen und zeitliche Einordnungen eine im Wortsinn grundlegende Unterstützung.

 

Ein Text von Gisela Tilly (Dipl.-Rest. Restauratorin)

Die Fotos (auch Infrarotaufnahmen) stammen von Ansgar Hoffmann (Berufsfotograf, Diplom-Designer)

Weiterführend zu dem Thema Infrarotuntersuchungen empfehlen wir den Blogbeitrag „Ich sehe was, was du nicht siehst“ des Landesmuseums Württemberg

Sie möchten mehr über die Techniken der Malerei erfahren? Dann empfehlen wir die Digital Story des Wallraf-Richarts-Museums: „Entdeckt! Techniken der Malerei“

An vier Abenden fanden in den vergangenen Monaten wieder die „Dialoge im Museum“ statt – eine Kooperation zwischen dem Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft der Uni Paderborn und dem Diözesanmuseum. Gesprächsanlass bot die aktuelle Sonderausstellung „Before the Wind“ sowie das germanistische Masterseminar „Konzepte der Kreativität“.

Was ist Kreativität?

Prof. Lothar van Laak ging mit seinen Gästen, den Studierenden und Museumsbesucher*innen in der Ausstellung verschiedenen Fragen nach: Was ist Kreativität? Wie lässt sie sich anregen? Worauf basieren ihre Möglichkeiten?

Die Kunstwerke von Claudia Brieske und Franziska Baumann und deren Inszenierung im Dialog mit den sakralen Kunstwerken der Museumssammlung dienten als Anregung. Auch die Perspektiven der Dialog-Gäste Dr. Christiane Ruhmann (Kuratorin der Ausstellung), Prof. Rita Burrichter (Theologie, Uni Paderborn) und Prof. Reinhard Schulz (Philosophie, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg) sowie zahlreiche Literatur-Beispiele regten die Gespräche an.

Einen Veranstaltungsband gestalteten die Studierenden des Seminars „Konzepte der Kreativität“.  In drei Stationen verbanden sie ihre Ausführungen zu „Genie“ und „Kreativität“ mit dem Ausstellungsthema „Wind“. Dabei nutzen sie unterschiedliche Medien und kreative Annäherungsformen, um die lange Kulturgeschichte der Kreativität auch anhand literarischer Beispiele vor Augen zu führen. Die Gedanken und Anregungen der Besucher*innen wurden aktiv mit einbezogen.

Zu der Veranstaltung entstand ein Programmheft, das wir hier zum Download zur Verfügung stellen.

Die „Dialoge im Museum“ – ein Erfolgsformat

Die Gesprächsreihe „Dialoge im Museum” begann mit der „Caritas”- Ausstellung im Jahr 2015. Für die sehr intensive Zusammenarbeit im Rahmen der Ausstellung „Wunder Roms im Blick des Nordens” wurde die Kooperation zwischen Universität und Museum im Jahr 2017 mit dem Preis für Innovation und Qualität in der Lehre der Universität Paderborn ausgezeichnet. Denn die „Dialoge im Museum” fördern im Gespräch über Exponate der Ausstellungen und der Sammlung und über Beispiele von Literatur und Künsten den Austausch zwischen Museum und Universität, zwischen Studierenden und Besucher*innen des Museums: Ein lebendiger Ort zum gemeinsamen Nachdenken über Kunst und Kultur ist so entstanden. Die Ausstellungen des Museums werden zu einem besonders anregenden Lernort.

Seit dem Beginn der Reihe führte Prof. Dr. Lothar van Laak (Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn) mit Kolleg*innen anderer Disziplinen (Kunstgeschichte, Musik-, Literatur- und Filmwissenschaft, Theologie und Geschichtswissenschaft) etwa 40 Gespräche über Themen wie die Liebe, über Engel, das Staunen und über grundlegende Transformationsprozesse von Kultur und deren Aktualität und Anschaulichkeit. Aber auch Studierende moderierten inzwischen mehrere Gesprächsabende und präsentierten im Programm zum 50. Jubiläum der Universität Paderborn im Sommer 2022 eine filmische und literarische Zeitreise zu Felicitas Hoppes Roman „Die Nibelungen”. Weitere Kooperationsformate sind für die Zukunft in Planung.

– Prof. Lothar van Laak (Universität Paderborn)

Von Säuseln bis Tornado: Wind kann genauso zerstören wie Leben ermöglichen. Kein Wunder also, dass er auch in der Religion eine Rolle spielt. Das zeigt die Ausstellung „Before the Wind“ im Diözesanmuseum Paderborn.

Sagt Ihnen der Name Emmelinde etwas? Falls Sie aus Paderborn oder Lippstadt kommen, sind die Chancen hoch, dass Sie diese Frage mit Ja beantworten. Und vermutlich ähnliche Bilder im Kopf haben: entwurzelte Bäume, abgedeckte Dächer, vom Wind umgeworfene Fahrzeuge. Emmelinde hieß das Sturmtief, das im Mai 2022 einen Tornado über Teile Ostwestfalens ziehen ließ. Hautnah haben die Menschen hier die zerstörerische Kraft des Windes erlebt, die man sonst nur aus Fernsehbildern aus den USA oder aus Asien kennt.

Wind: zerstörerisch, lebenspendend – künstlerisch anregend

Doch Wind ist mehr als Zerstörung. „Wind ist eine gestalterische Kraft“, sagt Claudia Brieske. Die Berliner Videokünstlerin hat sich gemeinsam mit Franziska Baumann , einer Klangkünstlerin aus Bern, mit dem Thema Wind beschäftigt. Der Tornado von 2022 war dabei Inspiration. In enger Zusammenarbeit mit dem Diözesanmuseum Paderborn  ist dabei die Ausstellung „Before the Wind“ entstanden. Sie beleuchtet die verschiedenen Facetten, die Wind haben kann. Und erzählt auch viel darüber, was Wind mit Glauben zu tun hat.

Die Künstlerinnen Franziska Baumann aus Bern und Claudia Brieske aus Berlin arbeiten seit 2006 zusammen. © Harald Morsch / Diözesanmuseum Paderborn
Die erste Windfigur macht das Wehen des Windes sichtbar. Damit beginnt nach dem Verständnis der Künstlerinnen die Zeit.

Die Ausstellung heißt „Before the Wind“. Was also war da, vor dem Wind? Die Antwort der beiden Künstlerinnen: nichts. Denn für sie beginnt mit dem Aufkommen von Wind überhaupt erst die Zeit – und damit die Welt. Das zeigen sie mit ihrer ersten Windfigur, einer weiblichen Gestalt, die in lange Bahnen aus fließendem, roten und weiß-durchscheinenden Stoff gehüllt ist. Im Video greift der Wind in den Stoff, bläht ihn auf, lässt ihn flattern. Dadurch wird das nicht-greifbare Element – im Verständnis der Künstlerinnen – erstmals sichtbar, erlebbar.

Die Welt entsteht durch den Wind Gottes

Dass mit dem Wind Zeit und Welt beginnen, das findet sich auch in der biblischen Überlieferung. Denn die Schöpfung hat auch viel mit Wind zu tun. In Genesis 1,2 heißt es: „Die Erde war wüst und wirr und Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.“ Das Wort, das man heute zumeist mit „Geist“ übersetzt, lautet im Hebräischen „ruach“. „Ruach“ bedeutet durchaus „Geist“, hat aber auch ältere Bedeutungen, nämlich „Wind“, „Hauch“, und „Atem“. Die Welt wird also durch den Wind oder den Atem Gottes. Der Mensch wird erst durch das Einhauchen des göttlichen Atems zum lebendigen Wesen (Gen 2,7).

Wind ist lebenspendend. Das gilt auch in der Natur. Dazu sieht man in der Ausstellung Live-Bilder des Jetstreams. Das ist ein riesiges Luftband, das mit hoher Geschwindigkeit und in großer Höhe über unseren Planeten weht. Der Jetstream treibt die Hoch- und Tiefdruckgebiete an und ist damit mitverantwortlich für wechselnde Wetter – was notwendig ist, damit Pflanzen wachsen und gedeihen können.

Wind verbindet Himmel und Erde

Im Glauben der Menschen steht Wind auch für die Verbindung zwischen Himmel und Erde – zwischen göttlicher und irdischer Sphäre. Da ist die Wolkensäule aus dem Buch Exodus: „Der HERR zog vor ihnen her, bei Tag in einer Wolkensäule, um ihnen den Weg zu zeigen (…)“ (Ex 13,21). In der Kunst werden den Engeln Flügel verliehen, sie werden zu Luftwesen, sodass sie die Verbindung zwischen oben und unten schaffen und aufrechterhalten können. Da ist Das Brausen zu Pfingsten – in der Ausstellung durch ein Gemälde repräsentiert, in dem der Geist/Wind Gottes in Gestalt einer Taube im Sturzflug durchs offene Fenster in den Saal rauscht, in dem Maria und die Jünger sitzen. Über Jahrhunderte haben Menschen starke Wind-Bilder gefunden, um die Botschaft ihres Glaubens zu verdeutlichen: Gott hat sich nach der Schöpfung nicht teilnahmslos von seinem Werk abgewandt, er wirkt darin weiter.

Die christliche Kunst verleiht Engeln Flügel, um bildhaft zum Ausdruck zu bringen, dass sie göttliche und irdische Sphären verbinden. © Cornelius Stiegemann / Erzbistum Paderborn
Die dritte Windfigur in der Ausstellung "Before the Wind" geht durch eine Sandwüste und hält einen Schallplattenspieler in Händen. © Cornelius Stiegemann / Erzbistum Paderborn

„Nimm mein Gebet als Weihrauch an, der hinaufsteigt und zu dir gelangt“ (Ps 141,2) Die Verbindung kann nicht nur von oben nach unten, sondern auch umgekehrt verlaufen. Heiße Luft steigt nach oben und Partikel in der Luft können diese Bewegung sichtbar machen. Nichts anderes ist der im Psalm erwähnte Weihrauch – schon lange vor Christentum und Judentum wurde er in religiösen Kontexten verbrannt. In der Ausstellung stehen mittelalterliche Weihrauchfässer einer Videoinstallation gegenüber, die Claudia Brieske aus Aufnahmen aus dem Windkanal der Ruhr Universität Bochum geschaffen hat. Hier wird unter strömungsmechanischen Gesichtspunkten das Verhalten von Rauch untersucht. Man sieht im Video aber auch vom Wind erfasste Haare und Stofffetzen sowie die riesigen Propeller, die künstlich Wind erzeugen, um das Phänomen untersuchen zu können.

Windhauch

Wenn mit dem Wehen des Windes Zeit und Welt begannen – was ist dann bei Windstille? Diese Frage kann man sich bei der Betrachtung der letzten beiden Exponate stellen. Da steht die Videoinstallation einer weiteren Windfigur über Eck im Dialog mit der Imad-Madonna. Die Windfigur im Video trägt ein langes Gewand aus Netzen und Schläuchen, dessen Schleppe sich hinter ihr in Form von Rillen in den Sand einer Wüstenlandschaft eingräbt – den Sand für diese Wüste, das sei an dieser Stelle bemerkt, hat der Wind über 700 Kilometer von der Sahara auf die Kapverdischen Inseln getragen hat, wo Brieske und Baumann gedreht haben. Als Attribut trägt sie einen Plattenspieler, bewusst ähneln die Rillen im Sand denen auf der Platte. Die Windfigur will Spuren hinterlassen.

Die dritte Windfigur in der Ausstellung "Before the Wind" hält einen Plattenspieler in Händen. Das Video zeigt, wie eine Windböe unter die Platte greift und sie davonträgt - als Symbol für Vergänglichkeit. © Cornelius Stiegemann / Erzbistum Paderborn

Doch vergeblich, solange der Wind weht. Schon rieseln Sandkörner, vom Wind angestoßen, in die Fußstapfen und Rillen am Boden. Und dann greift auch noch eine Windböe unter die Schallplatte, reißt sie mit sich fort. Den Moment festhalten, etwas Bleibendes schaffen, erinnern – das sind urmenschliche Bestrebungen. Doch letztlich muss der Mensch ihre Vergeblichkeit akzeptieren. Das Wehen des Windes erinnert auch an die Vergänglichkeit. Wie es im Buch Kohelet heißt: „Windhauch, Windhauch, alles ist Windhauch“ (Koh 1,2).

 

Windstille heißt Ewigkeit

Demgegenüber liegt das Gewand der Gottesmutter zwar in Falten, doch kein Windhauch greift in den Stoff. Im Kontext der Ausstellung bedeutet Windstille, dass man sich außerhalb der Zeit befindet. Die Imad-Madonna ist ja auch kein Abbild einer historischen Maria mit ihrem Kind, sondern ein überzeitliches Symbol. Anders als der Plattenspieler der Windfigur, präsentiert sie hier nichts Vergängliches, sondern Ewigkeit: Jesus als die fleischgewordene Weisheit Gottes. Alles Wehen, Brausen, Stürmen, Säuseln und Hauchen kommt am Ende bei ihm zur Ruhe.

 

Autor: Cornelius Stiegemann

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.erzbistum-paderborn.de

© Cornelius Stiegemann / Erzbistum Paderborn

Künstlerinnenduo Claudia Brieske und Franziska Baumann bringen limitierte Vinyl-Auflage zur Ausstellung „Before the Wind“ heraus

Sobald man die Ausstellung Before the Wind betritt, ist ein Rauschen, Zischen, Klacken und Wehen zu hören: Der Wind ist allgegenwärtig. Dies ist nur durch die eindrucksvolle Klangkunst von Künstlerin Franziska Baumann aus Bern möglich, die in mühevollen Studien und Kleinstarbeit den Wind „zum Tönen“ gebracht hat. Dazu passend finden aufmerksame Besucher*innen auf den oberen Ebenen des Museums Plattenspieler, die als Skulpturen fungieren. Sie stehen für das „entkörperte Gedächtnis“ – eine Erinnerung daran, dass Menschen mit der Erfindung des Phonographen zum ersten Mal Klang ohne sichtbaren Körper hören konnten. Sie sind Teil der 3. Windfigur, in der Erinnerungen in die Wüste, also in die Leere, getragen werden. Die Schallplatte, als Symbol für die Erinnerung, wird schließlich vom Wind davongeweht.

Ein Hauch von Wind für zuhause

Zum Ausstellungsstart brachten die Künstlerinnen eine limitierte Edition von Vinylplatten heraus, auf der alle Kompositionen, die in der Ausstellung wie ein Windhauch leise durch die Räume wehen, zu hören sind. „Wir möchten den Besucher*innen die Chance geben die Kompositionen noch einmal intensiver und in aller Ruhe hören zu können“, sagt die Sängerin, Komponistin und Klangkünstlerin Franziska Baumann. Auch die handgezeichneten und bemalten Cover greifen ein zentrales Thema der Ausstellung auf: Vom Sehen zum Hören und vom Hören zum Sehen – Seeing the Voices and Hearing the Body.

 Jedes Exemplar ein Unikat

Jedes Exemplar ist ein Unikat und ist limitiert auf 50 Exemplare. Die Cover sind von den Künstlerinnen handgezeichnet und auch die Vinyl sind handgekratzt und individuell gestaltet im Studio von Francessco Passantino (Musiker und DJ der Studio BerlinerVinyl Werk). Die Vinyl können bei uns im Diözesanmuseum für 60 Euro an der Museumskasse erworben werden.

Musik- und Soundperformance im September live erleben

Abschluss und Höhepunkt des Windprojekts ist eine große audiovisuelle Inszenierung am 20. und 21. September 2025. Das Konzerterlebnis mit Live-Video, Stimme, Live-Elektronik und Chor ist eigens konzipiert für die Architektur des Diözesanmuseums. Mit dabei ist die Mädchenkantorei des Paderborner Doms, für sie komponiert Sängerin und Klangkünstlerin Franziska Baumann Stimmmaterial, das gemeinsam mit dem Leiter der Kantorei, Patrick Cellnik, erarbeitet wird.

Über Before the Wind

Bei der neuen Ausstellung in unserem Diözesanmuseum dreht sich alles um den Wind. Mit Before the Windöffnet sich das Museum für einen faszinierenden Dialog zwischen experimenteller, zeitgenössischer Kunst und jahrhundertealten Objekten aus der eigenen Sammlung. Das unsichtbare und zugleich kraftvolle Element Wind wird hier in seiner technischen, gestischen und spirituellen Dimension erforscht. Die Skulpturen, Videos, Musik- und Soundstationen des Künstlerinnenduos Baumann-Brieske (Bern/Berlin) lassen das Naturphänomen in einer vielschichtigen Inszenierung lebendig werden.

 

 

Einen wunderschönen guten Tag. Ich möchte mich gerne einmal vorstellen: Mein Name ist Adriana Papadopoulou. Ich studiere Germanistische Literaturwissenschaften im Einfach-Master an der Universität Paderborn und darf mein außeruniversitäres Praktikum im Paderborner Diözesanmuseum absolvieren. Der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität habe ich es zu verdanken, dass ich in der diesjährigen Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” hinter die Kulissen blicken darf. So begleite ich nun auch die öffentliche Reihe ,,Dialoge im Museum” mit Blogbeiträgen, in denen ich die gemeinsamen Abende Revue passieren lasse.

Am 16.01.25 führten uns Prof. Dr. Lothar van Laak (Universität Paderborn) und die Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann zum letzten Mal durch die Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike”. Damit fand die Reihe ,,Dialoge im Museum“ ihren – zart in Geschichte und Literatur eingehüllten – Abschluss.

Zu Beginn wurde die Weitergabe von geschichtlichen Ereignissen thematisiert. Das beinhaltete auch die subjektive Wahrnehmung von historischen Fakten, Dingobjekten und Personen. Der zweite Teil des Abends widmete sich der gemeinsamen Auseinandersetzung mit der lyrischen Inszenierung von Raum und Figuren. Sehr schön war, dass die einzelnen Nachfragen und Kommentare der Besuchenden sowohl neue Diskussionsthemen boten als auch auf vergangene Abende rekrutierten.

Gegen Vorstellungen erzählen, um Ideenräume zu öffnen

Was ist dein erster Gedanke bei dem Wort ,,Mittelalter”? Ist es vielleicht ,,dunkel – böse”; ,,rückständiges Zeitalter”; ,,ungewaschene Mönche in kleinen unbeleuchteten Klosterzellen”; ,,chaotische Gesellschaft”? Mit dem Abschluss der hochentwickelten Antike kam also das ,,dunkle Mittelalter”?

Solche negativen Assoziationen haben wir dem Humanismus zu verdanken, der die Vorstellung des Mittelalters als unzivilisiertes Zeitalter prägte. Auffällig ist, dass wir heute noch diese Vorstellungen in unseren Köpfen verwurzelt wiederfinden, obwohl sie nicht der historischen Realität entsprechen. Es ist eine große Herausforderung, gegen einen Diskurs zu erzählen, der seit einigen Jahrhunderten Zeit hatte, sich festzusetzen.

Das Diözesanmuseum griff diesen Umstand auf, indem die Figur des Odysseus zentral in die Sonderausstellung gesetzt wurde. Es entstand ein immersiver Erinnerungsraum, in dem so einige Exponate auf die mythische Gestalt aus dem 9. Jahrhundert verwiesen und mit ihr interagierten. Historisch gesehen ist es jedoch nicht wahrscheinlich, dass die ebenfalls in der Ausstellung thematisierten Saxones zur Zeit des Corveyer Klosters mit dieser Figur in Kontakt gekommen war. Der regionale Bezug macht es hier dennoch unmöglich, die Saxones zu vergessen. Sie hinterließen kaum schriftliche Überreste, besaßen vielmehr eine Kultur der Mündlichkeit. An ihrem Beispiel wird deutlich, dass Geschichte keine fest umschlossene Wundertüte darstellt. Es wird in der Geschichte immer Bereiche geben, die für uns ein Geheimnis bleiben werden. Obwohl beispielsweise die Westfalen des 9. Jahrhunderts Teil der Geschichte des Raumes waren, weiß man heute nicht mehr, wie genau, denn die schriftlichen Überlieferungen fehlen.

Einblick in die Saxones-Ausstellungsabteilung

Ein weiterer wichtiger Aspekt zeigte sich auch anhand des Verweises einer Besucherin auf Odysseus‘ Hund (,,Αργος“, dt. Argos) erinnerte. So wartet in der Odyssee der Hund 20 Jahre auf sein Herrchen und beide erkennen sich trotz unterschiedlicher Gestalt wieder (die Szene lässt sich in Homers ,,Odyssee” im 17. Gesang Vers 290-304 nachlesen. Vgl. Quellen.). Es zeigt das Moment der Anagnorisis (des Wiedererkennens) in einer anderen Wahrnehmungsform. Der Hund stellt eine animalische Zeugenschaft dar, welche die materielle Identität von Odysseus olfaktorisch aufspüren kann. Die Nase eines Hundes kann man schließlich nicht täuschen. Er bewertet Odysseus nicht nach seinem Aussehen oder seinen Handlungen, er macht auch keine Vorwürfe oder klagt an, sondern bleibt der treu ergeben, wartende Diener.

Im Hinblick auf das bereits Gesagte soll deutlich werden, dass Geschichte und Identitäten aus kulturellen Formationen erwachsen können. Wir verändern uns (gegenseitig) und wir werden verändert, aber wir können die Richtung entscheiden, unabhängig davon, wer oder was uns (er)kennt.

Der lyrische Raum und seine Figuren

Der zweite Teil des Abends befasste sich mit Joseph von Eichendorffs ,,Am Strom” (1837) und Robert Walsers ,,Sirene” (1930). Die Entstehungszeit der beiden Gedichte verortet das ältere in die literarische Epoche der Romantik, während Walser zu den Autoren des 20. Jahrhunderts gezählt wird. Inhaltlich befassen sich beide Werke mit der Imagination einer Sirene, wenngleich sie unterschiedliche Strategien anbieten, um diese als weiblich verstandene Figur zu versprachlichen.

Joseph von Eichendorff

Am Strom

(1837)

Der Fluß glitt einsam hin und rauschte
Wie sonst, noch immer, immerfort,
Ich stand am Strand gelehnt und lauschte,
Ach, was ich liebt‘, war lange fort!
Kein Laut, kein Windeshauch, kein Singen
Ging durch den weiten Mittag schwül,
Verträumt die stillen Weiden hingen
Hinab bis in die Wellen kühl.

 

Die waren alle wie Sirenen
Mit feuchtem, langen, grünen Haar,
Und von der alten Zeit voll Sehnen
Sie sangen leis und wunderbar.
Sing‘ Weide, singe, grüne Weide!
Wie Stimmen aus der Liebsten Grab,
Zieht mich Dein heimlich Lied voll Leide
Zum Strom von Wehmuth mit hinab.

Das erste Gedicht ,,Am Strom” beschreibt die Naturerfahrung eines lyrischen Ichs, das emotional geladen während der Naturbetrachtung in eine Imaginationswelt hinübergeht. Die Zuschreibung der Naturphänomene lässt das lyrische Ich männlich erscheinen. Es befindet sich am Strand, lauscht den Geräuschen des Wasser- und Windspiels und beobachtet präzise die Bewegungen der Weide. Diese Faktoren erschaffen in der Vorstellung des Lyrischen Ichs einerseits Sirenen, andererseits ihren Gesang, den es eigentlich nicht hören kann. Wer in dieser inszenierten Stille zuhört, ist wiederum nicht weiter von Bedeutung, da der Versuch unternommen wird, die Stille in der Vorstellungswelt zu füllen. Entscheidend ist, dass die imaginierte Figur und das Lyrische Ich in der Natur sowohl aufgehen als auch sich darin auflösen. Was sagt das über unseren Umgang mit Kultur?

Das zweite Gedicht ,,Sirene” geht nicht von einer gesteigerten Phantasie aus, sondern arbeitet mit sprachlichen Zuschreibungen. Das Lyrische Ich beschreibt hier zunächst einmal die unzeitgemäße Denkhaltung einer überaus schönen weiblichen Figur, die sich in einem modrigen Zimmer aufhält. Die Vorstellung ,,[…] Gott werde ihre Schritte leise lenken” beinhalten, dass eine höhere Instanz das Denken für die weibliche Figur übernehme und ihre weiteren Handlungen steuern könnte. Die intendierte Übergabe von Denken und Handeln kann an dieser Stelle als eine Schwäche verstanden werden. Darin liegt latent die Aufforderung verborgen, diese Grundeinstellung abzulegen und sich um Emanzipation zu bemühen. Der persönliche Rückzugsort abseits der Gesellschaft wird in dem Gedicht als identitätsbrechende Umgebung markiert, da die schöne weibliche Figur neben einer ,,schimmelige[n] Wand” gestellt wird. Die weibliche Figur scheint ganzjährig starr in diesem Raum verankert zu sein, weshalb sie nicht aus den Beschreibungskategorien heraustreten kann. Sie ist daher den einseitigen Attribuierungen der Beobachter ausgesetzt. Darüber hinaus wird die Selbstwahrnehmung der ,,Sirene” und ihrer Gefühlswelt nicht weiter berücksichtigt. Sie müsste neue Strategien und Handlungsweisen entwickeln, um dem Schubladendenken der anderen zu entkommen. Im Grunde führt das Gedicht vor, dass das Potenzial von ,,Kultur” von den Zuschreibungen einer Vielzahl von unbestimmten Betrachter*innen abhängig ist.

Gehabt euch wohl!

Jetzt ist der Moment gekommen, an dem ich mich von Euch verabschieden muss. Seit Oktober durfte ich als Praktikantin an abwechslungsreichen Tages- und Abendprogrammen teilnehmen. Ich traf viele verschiedene Museumsmitarbeiter*innen, die mit ihrem großen Wissen, ihrem motivierten Engagement und ihrem liebevollen Fingerspitzengefühl dem Museum seine Seele verleihen. Obwohl sie sich mit Objekten/Exponaten und historischen Diskursen auseinandersetzen, schauen sie darüber hinaus und versuchen gemeinsam ein Museum zu gestalten, in dem jeder Mensch etwas zum Staunen finden kann. Faktoren wie Alter, Kultur, Herkunft, Sprache, Bildungshintergrund spielen hierbei keine Rolle, da sie die Türen des Diözesanmuseums für alle Menschen gleich öffnen. Es ist sehr inspirierend, den Einsatz und die Geduld der Mitarbeitenden und der Museumsbesucher*innen zu sehen. Sie geben Hoffnung, dass wir gemeinsam als Gesellschaft voneinander lernen und von den Blickwinkeln des anderen profitieren können. Ich denke, wir wachsen dadurch nicht nur im geistigen Sinne, sondern gleichwohl im menschlichen, denn Kultur und Geschichte ist ein Teil unserer Identität. Wir stehen deshalb gleich in der Verantwortung, sie zu bewahren, zu beschützen und weiterzutragen. Aus der „Dialoge im Museum“- Reihe haben wir schließlich auch gelernt, dass jede*r von uns eine (unerforschte)  Geschichte neu schreiben kann. Theoretisch könnten wir alle also die Welt zu einem besseren Ort machen.

Adriana Papadopoulou

Quellenverzeichnis

  • Eichendorff, Joseph v.: Am Strom. In: Mythos Sirenen. Texte von Homer bis Dieter Wellershoff. Hrsg. v. Werner Wunderlich. Stuttgart: Reclam 2007. S. 48.
  • Walser, Robert: Sirenen. In: Mythos Sirenen. Texte von Homer bis Dieter Wellershoff. Hrsg. v. Werner Wunderlich. Stuttgart: Reclam 2007. S. 159.
  • Köhken, Adolf: Perspektivisches Erzählen im homerischen Epos: Die Wiedererkennung Odysseus: Argos. In: Hermes, 131. Jahrg.,H. 4 (2003), S. 385-396.

Internetquellen

Einen wunderschönen guten Tag. Ich möchte mich gerne einmal vorstellen: Mein Name ist Adriana Papadopoulou. Ich studiere Germanistische Literaturwissenschaften im Einfach-Master an der Universität Paderborn und darf mein außeruniversitäres Praktikum im Paderborner Diözesanmuseum absolvieren. Der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität habe ich es zu verdanken, dass ich in der diesjährigen Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” hinter die Kulissen blicken darf. So begleite ich nun auch die öffentliche Reihe ,,Dialoge im Museum” mit Blogbeiträgen, in denen ich die gemeinsamen Abende Revue passieren lasse.

Am 12. Dezember präsentierten die Studierenden der Uni Paderborn den Besuchenden das Resultat ihrer Auseinandersetzung mit der Odysseus-Rezeption. Seit Anfang Oktober hatten sie im Gruppenverband an den Konzepten gearbeitet. Aus den Projektgruppen waren nun vier Stationen entstanden, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten (Literatur, Film, Musical und Plastik/Selfie Point) den dritten Gesprächsabend der „Dialoge im Museum“ bildeten.

Die Studierenden waren sehr wohl darauf bedacht, den Besuchenden nicht nur ihre Ergebnisse darzulegen, sondern sie auch in eine Reflexions- und Mitmachrunde einzubinden. Ihnen sollte erst gar nicht die Gelegenheit zur Passivität eingeräumt werden.

Rekapitulieren wir dementsprechend gemeinsam einen  abwechslungsreichen Abend.

Zu den vier Stationen

In der ersten Station blickten die Studierenden differenzierend auf neuhochdeutsche Übersetzungen der homerischen ,,Ilias” in Altgriechisch. Es fiel auf, dass die formale und inhaltliche Nähe der neuhochdeutschen Übersetzung vom Verlag und dessen Übersetzer*innen abhänge. Beispielsweise wurde auf die gravierenden Unterschiede sowohl im Hinblick auf sprachliche Semantik als auch in der inhaltlichen Erzählstruktur deutlich gemacht. Nicht ganz unbedeutend war daher, dass plötzlich Figuren in der Übersetzung verschwanden und weibliche Figuren mit negativ konnotierten Bezeichnungen ausgewiesen wurden. Obwohl alle neuhochdeutschen Übersetzungen das Ziel verfolgt haben mögen, ,,die” eine Textvariante zu produzieren, müssen sie dennoch als mögliche Interpretationsversuche eingestuft werden.

Schon auf dem Weg zur nächsten Station wurden die Besucher von Musik und Gesang in Empfang genommen. Ein cleverer Kniff der Musical-Gruppe, das Interesse an ihrem Projekt zu wecken.

Die zweite Projektgruppe hatte sich mit Jorge Rivera-Herrans’ englischsprachigen Musical ,,EPIC” befasst, welches online vollständig zugänglich ist und wegen seiner wachsenden Community in naher Zukunft uraufgeführt werden soll. In einer neuen Adaption macht Rivera-Herrans’ die Erzählung um Odysseus auch für das jüngere Publikum attraktiv. Spannend ist, dass er nicht nur die Musik und die Texte für jede einzelne Saga (Kapitel) geschrieben hat, sondern auch die Odysseus-Figur vertont. Er versucht keine flache Heldenfigur abzubilden, sondern zeigt in Form von Dichotomien die Komplexität von (menschlichen) Handlungen und Entscheidungen. Als Beispiel wurde den Besuchenden das Stück ,,Monster” aus ,,The Underworld Saga” vorgespielt.

Darin stellt der vertonte Odysseus die Schuldfrage für seine Lebensentscheidungen und die Konsequenzen für seine Umwelt dar. Er fragt in Verzweiflung: ,,What if I am the Monster?”.

Die Studierenden gaben die Frage, inwiefern Odysseus in der Adaption nach Rivera-Herrans als Mann oder als Monster eingestuft werden könnte, an die Besuchenden weiter. Ein Plakat und rote Aufkleber wurden dafür vorbereitet.

Wie hätten Sie sich positioniert und warum?

Hier ist das Ergebnis des Abends:

Dieses Plakat sollte den Besuchenden die Stellungnahme erleichtern.
Nach reiflicher Diskussion blieben einige Personen neutral, während die Mehrzahl dahin tendierte, die Figur ,,Odysseus” als ,,Mensch” einzuordnen.

Die dritte Station bildete das Figurenpaar ,,Odysseus und Skylla”, welches die Projektgruppe in Anlehnung an die karolingische Wandmalerei des Corveyer Klosters entworfen hatte. Das einzige im Mittelalter überlieferte Bild der Geschichte sollte in Form von zwei Pappaufstellern für die heutige Zeit greifbar gemacht werden. Entstanden war ein Selfie Point, der – im Gegensatz zu seinem gemalten Vorbild – dazu einladen sollte, in Interaktion zu treten: Odysseus wurde für einen Moment im Raum des Museums plastisch erlebbar. Es wurde sehr großen Wert darauf gelegt, dass die Besuchenden nicht dem Staunen verfallen, sondern in Interaktion mit den Figuren treten sollten. Damit sollte der Installation Leben eingehaucht und die aktive Neugier angeregt werden.

Die Besuchenden hatten durch die Figuren die Möglichkeit, aktiv an der Erinnerungs- und Rezeptionskultur teilzunehmen. Durch das Fotografieren mit den Figuren wurden sie spielerisch ein Teil der Odysseus-Erzählung. Jede Person konnte ihre eigene Geschichte von Odysseus und Skylla erzählen. Ein spannender Nebeneffekt war die veränderte Dynamik im Ausstellungsraum, da die Besuchenden jetzt ausnahmsweise Objekte anfassen durften.

(Unter uns: Ich sah vor Beginn des Abends, wie Odysseus’ muskulöser Körper mit einer Fusselbürste bearbeitet wurde. Auch bei der Skylla mussten erst noch einige Körperpartien zurechtgerückt werden. Näher kann man antiken Figuren wirklich nicht kommen. Homer hätte das bestimmt nie zu träumen gewagt. 😉)

Dieser Odysseus nimmt zwar die Haltung der Corveyer Bildvorlage auf, der vestimentäre Code präsentiert ihn jedoch als mittelalterlichen Herrscher.
Die Figur der Skylla hat im Vergleich zu ihrem männlichen Gegenüber eine moderne Ausrichtung erfahren. Sie wurden mit dynamischer Farbigkeit, verschiedenen Materialien und weiblichen Akzenten erweitert, um Plastizität zu erzeugen.

In vielerlei Hinsicht sind demnach einzelne Aspekte und Erzähldiskurse in diesem Figurenpaar ergänzt worden. Der Phantasie sind ja bekanntermaßen keine Grenzen gesetzt. Die Interaktion mit den lebensgroßen Aufstellern sollte den Besuchenden den antiken Erzählstoff leichter zugänglich machen. Der performative Akt lässt sie so an der Rezeption des Odysseus-Erzählstoffes mitschreiben. Der museale Raum wird dadurch zum Erfahrungsraum, in dem spannende Erinnerungen neu kreiert werden können. Jede Person kann sich für die eigene Inszenierung dabei beispielsweise fragen: Versuche ich die Figurengruppe als mythologischer Kämpfer*in zu ergänzen? Odysseus kann vielleicht eine helfende Hand gebrauchen. Oder stelle ich mich vielleicht doch auf die Seite der Skylla?

Odysseus und Skylla laden zu vielen Möglichkeiten der interaktiven Neuinterpretationen ein, und zwar ganz unabhängig von der antiken Text- oder mittelalterlichen Bildvorlage.

Jede*r, der mit den Figuren interagiert, konnte darüber hinaus am Ende des Tages ein personalisiertes Stück des Corveyer Weltkulturerbes mit nach Hause nehmen (Foto). Die kulturelle Umdeutung der antiken Stoffvorlage und der mittelalterlichen Rezeption wird dadurch mit jeder Person fortgeschrieben. Im Kern versuchte das Figurenpaar auf eine andere Weise, die derzeitige Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” in sich zu spiegeln, die sich u.a. mit der kulturellen Aneignung auseinandersetzt (Vgl. Blogbeitrag vom 14.11.24).

Dies verdeutlicht die Fluidität von Kulturprozessen, die nicht allein von den Exponaten abhängig gemacht werden können, sondern gleichwohl von jeder /jedem einzelnen mitgetragen werden. Also: Welchen Teil von Kultur und Rezeption wollen wir – können wir, kannst du und ich – weitertragen?

Die letzte Gruppe befasste sich mit dem Heldenbild in dem Film ,,Die Abenteuer des Odysseus” (1997). Sie zeigte die Begegnung der Titelfigur und ihrer Mannschaft mit den Seemonstern Skylla und Charybdis in einer Meerenge. Die Bedrohung durch das erste weibliche Monster zeigte sich in der herrschenden Stille, während die Besatzung ihre Höhle durchquerte sowie in den angsterfüllten Gesichtern der Männer. Von der Skylla waren nur Tentakel zu erkennen. Die eingeschränkte Sichtbarkeit in der Höhle und die plötzlichen Geräusche von sterbenden Männern und einer (unschuldigen) Ziege, boten in dieser filmischen Adaption keine Grundlage für das Eingreifen eines mutigen Odysseus. Statt dem klassischen Heldenbild zu entsprechen und das Leben seiner Mannschaft zu verteidigen, zieht er sich zurück und lässt seine Männer nacheinander von den beiden Meeresungeheuern verschlingen. Odysseus handelt nicht heldenhaft, obwohl die Zuschauer*innen/Besuchenden dies von ihm erwartet hätten. Der Film bricht also mit den gängigen Vorstellungen der Rezipienten von einem heldenhaften Odysseus. Im Museum diskutierten die Besuchenden anschließend, ob der Verlust von einigen Männern nicht als Kollateralschaden bewertet werden könnte, weil durch den Tod von einigen wenigen Personen eine größere Menschenmenge gerettet werden konnte… Unabhängig von der eigenen Positionierung ist es gut, dass die Kunst den Freiraum bietet – abgelöst von kulturellen und sozialen Wertkategorien – an Gedankenexperimente verschiedener Form (Literatur, Musik, Plastik, Film), teilzunehmen.

links: Der Screenshot verbildlicht den Schrecken und die Angst, bevor Skylla das Schiff überwältigt. Rechts: Im Vergleich mit der Corveyer Wandmalerei reduziert der Film die Skylla-Figur auf einzelne nicht-menschliche Körperteile, die eher der Hydra entsprechen.

An dieser Stelle möchte ich mich bei den Studierenden der Universität Paderborn für die Organisation eines vielfältigen Abends bedanken. Die Gesprächs- und Diskussionsbereitschaft der Besuchenden war sehr anregend. Daher auch einen herzlichen Dank an die Teilnehmenden für die vielen inhaltlichen Impulse.

Adriana Papadopoulou

Ein Beitrag von Künstler und Kalligraph Brody Neuenschwander 


I am told that handwriting is disappearing or has already disappeared. Many of us follow this story with sad fascination, assuming that the demise of this fundamental human activity will bring cultural disaster in its wake. The great irony is that calligraphy, handwriting’s well-dressed twin, lives on and even grows in popularity. Calligraphers themselves will often admit that they type more than they write, but when they DO write, it is with skill, deliberation and deep pleasure. Writing, in the hands of a calligrapher, makes language visible, beautiful, memorable.


But the keyboard and the screen rule our lives. So, what motivates a calligrapher to take up pen and ink and spend intense hours giving shape to words? Why do we sacrifice clarity and efficiency? Why make a text harder to read?


The place of calligraphy in the modern world is not easy to define. And yet, every year more people take calligraphy classes, investing time and energy in learning a skill that seems to be out of date. What do they do with this newly acquired skill?


They enhance the meaning of words.

They record thoughts and feelings.

They give shape to the stories of their lives.


In other words, they honor words. Calligraphy is perhaps unique in that it sits on the borderline between art and language. We read calligraphy and we look at it. It is in the calligrapher’s power to guide us through meaningful words in different ways. Calligraphy can be elegant, serene, and legible. It can be disturbing, hard to read, and challenging. It can express every emotion that the calligrapher can feel. Ink translates feeling into line, into letters, into works of (text) art.

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Can this art form have a social role? Can the calligrapher be the artful secretary who records another’s story? The Diocesan Museum in Paderborn has just carried out an experiment to test this possibility. “Tell me, o Muse,” was an event that brought calligraphers and re-rooted Paderborners together, the one telling a personal story, the other transforming it into calligraphy. On November 2, 2024, the public was invited to look over the shoulders of eight calligraphers as they transcribed and transformed the stories of eight Paderborn citizens who have arrived in the city from elsewhere over the years. Each re-rooted Paderborner was asked to write about her/his experience of migration, movement, relocation, restarting life in a new place. What was it like to move from Turkey or the United States to Germany? How difficult was it to make new friends? Was it hard to learn German? Do you miss your homeland? Can Germany become your new homeland? These are difficult questions, and they are faced by millions around the world today.


Eight stories of movement, loss, new beginnings. Eight calligraphers to write them. There was little or no contact between the storyteller and the calligrapher before the evening in the museum. The calligraphers received the stories in advance, giving them the chance to read the story and think about its meaning before the event began.


During the event the calligraphers created a work of art based on the story they were given. This was a personal interpretation of the words, not intended to please the storyteller. The calligrapher worked as an artist, using the words of the story as a catalyst for a work of art. At the end of the evening, the calligrapher and the storyteller met. Some storytellers could identify with the art works created from their stories. Others perhaps less so. But all felt that a bridge had been built, a story heard, a story told. The delicate, intimate interaction of artist and text became a warm, open invitation to friendship between artist and storyteller.

I wonder if this experiment can point calligraphy in a new direction. Can calligraphers become the listeners? Can they bring the stories of all kinds of people to the public in a new way? Can they interpret words, shape sentences, create works of art out of the stories that we all have and want to tell? “Tell me, o Muse” was a successful experiment. It is worth taking the idea further. There are many calligraphers in Germany today. I am confident that many of them would take up the challenge of recording the stories of all kinds of people, young and old, German and foreign, all religions and none.


We all have stories to tell. Let us give calligraphers a new task: to record our stories and transform them into works of art.

Text von Waltraud Murauer-Ziebach.


Was passiert mit unseren Erinnerungen, mit unseren Erfahrungen, mit unseren Kenntnissen, wenn wir sie nicht aufschreiben? Bleiben sie erhalten? Was geschieht mit unseren kulturellen Werten, mit unserem Wissen? Hinterlässt das alles Spuren nur im familiären Erinnern oder auch im kollektiven, im gesellschaftlichen Kontext?


Die Ausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ spürt Quellen jahrhundertealten Wissens auf und trägt sie temporär neu zusammen. Hier wird deutlich wie Kultur- und Wissenstransfer, wie Handelsbeziehungen und Migrationsbewegungen seit Jahrtausenden unsere Gesellschaft befruchten, verändern und bis heute prägen. Kulturtransfer – in welcher Form auch immer – ist eine wirkmächtige gesellschaftliche Kraft. Aus diesem Gedanken heraus hat das Team des Diözesanmuseums Paderborn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, gemeinsam mit Kalligraf*innen aus Deutschland, Belgien und den USA zu einem ungewöhnlichen Experiment eingeladen. Unter der Federführung des amerikanisch-belgischen Künstlers und Kalligrafen Brody Neuenschwander fand am 2. November 2024 die Kunstperformance „Tell me, O Muse…“ statt.


Persönliche Odysseen

Acht Erzählende teilten ihre Erlebnisse, ihre persönlichen Geschichten mit acht Schreibenden, Gestaltenden, um sie in neuer Form zu bewahren. Heute in Paderborn lebende Menschen aus Persien, der Türkei und Russland, aus Haiti, Vietnam und den USA, aus Frankreich und den Niederlanden berichteten von ihren persönlichen Odysseen. Der Bitte des Museumsteams und einem im Vorfeld erarbeiteten Fragenkatalog folgend, brachten sie Erlebtes, Gefühltes und Erlittenes zu Papier. Die einen in kurzen Antworten auf die gestellten Fragen, andere schrieben Berichte, Briefe, schickten Gedichte …


Verbindungen schaffen

Auf den verschiedenen Ebenen des Museums stellten die Kalligraf*innen einen Abend lang ihre Arbeitstische auf. Zwischen jahrhundertealten, kunstvoll gestalteten Handschriften, antiken Skulpturen und beeindruckender mittelalterlicher Schatzkunst, sollte etwas Neues entstehen und Verbindungen sichtbar werden. Mit Feder, Pinsel und Tinte näherten sich die Kalligraf*innen den Lebenserinnerungen der Menschen an, die mal mehr, mal weniger freiwillig von ihrer Kultur in eine andere, die unsere, wechselten. Ein intuitiver Prozess in der jeweils eigenen künstlerischen Sprache der Kalligraf*innen. Die Migrant*innen waren eingeladen zuzuschauen. Erst am Ende des Abends traf man sich zum Austausch.

Vergesst nicht, dass wir alle Menschen sind —
Nilgün Özel trifft Kalligrafin Veronique Vandevoorde


„Als wir 1966 aus meiner, mit 800.000 Einwohnern recht großen, Heimatstadt Eskişehir in der Türkei nach Deutschland, ins kleine, sauerländische Marsberg kamen, war das ein Kulturschock“, erzählt Nilgün Özel. „Meine Mutter packte ihre Miniröcke weg und sagte, die kann ich hier nicht tragen, das kennen sie noch nicht. Und ich lernte, dass höfliche junge Mädchen knicksen.“ Nilgün Özel lacht. Sie stammt aus einer Familie, in der Bildung und Kultur eine wichtige Rolle spielen. Der Vater, der in der Türkei nicht studieren konnte, wollte sich in Deutschland diesen Traum erfüllen aber vor allem hat er allen seinen Kindern, Jungen wie Mädchen, eine akademische Ausbildung ermöglicht. Unterdessen lebt Nilgün Özel seit 44 Jahren in Paderborn. Sie findet viele Gemeinsamkeiten zwischen ihrer ehemaligen und ihre heutigen Heimatstadt: die historischen Bedeutung, die vielen Quellen, die Universitäten, … Sie selbst sieht sich in gesellschaftlicher Verantwortung, engagiert sich ehrenamtlich in vielen kulturellen und sozialen Organisationen, sammelt Kunst und fördert junge Künstler*innen.

Für die Kalligrafin Veronique Vandevoorde aus Gent sind Sprache und Schrift nicht nur Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Bindemittel zwischen Menschen. Zwischen ihr und Nilgün Özel ist an diesem Abend eine besondere Verbindung entstanden und sie zeigt sich im kalligrafischen Werk.

Hier bin ich stark geworden…
Nguyet Rodehutskors trifft Kalligrafin Ute Meyer-Koppert

„Was ich von den Deutschen übernommen habe, das ist das Selbstbewusstsein“, sagt Nguyet Rodehutskors, „und das ist gut“. In Vietnam, erzählt sie, werde man zur Bescheidenheit und Zurückhaltung erzogen, hier muss man sich durchsetzen und behaupten können. Sie ist in einem behüteten Zuhause aufgewachsen, zweisprachig, mit Vietnamesisch und Französisch, besuchte eine Privatschule. Kultur und Bildung prägten ihre Familie. Mit 22 hat sie das alles hinter sich gelassen und ihre Heimat alleine verlassen. „Aus politischen Gründen“, erklärt sie, so wie rund zwei Millionen Menschen, die als „Boat People“ nach dem Ende des Vietnamkriegs vor dem kommunistischen Regime flüchteten. In Deutschland konnte Nguyet Rodehutskors ihren Traum verwirklicht, sie ist Dolmetscherin geworden, hat geheiratet und zwei Kinder bekommen. Was sie mitgebracht habe, in die neue Heimat, wollen wir wissen. „Offenheit, Optimismus, Toleranz, Ausdauer und eine leckere, gesunde und vielseitige Küche“, sagt Nguyet und lächelt.


Die deutsche Kalligrafin Ute Meyer-Koppert hat für Nguyet Rodehutskors ein feines, filligran wirkendes Bild geschaffen. „Ich habe einfach das Herz sprechen lassen“, sagt sie. Nguyet ist begeistert: „Das hat Leichtigkeit, aber Schwere ist auch dabei“, sagt sie spontan. „Und, ja, so ist das auch in meinem Leben. Unter den Kommunisten in Vietnam gab es sehr viel Schweres zu erfahren, schreckliche Dinge sind passiert, aber hier, nach der Flucht über den Ozean, konnte ich meine Leichtigkeit wiederfinden.“

Hilfsbereitschaft ist ansteckend …
Malihe Nadjafi trifft Kalligrafin Goedele Soetewey

„Längst sind wir alle Deutsche, aber wir tragen auch weiter persische Kultur in uns“, sagt Malihe Nadjafi über sich und ihre Familie. „Beim persischen Neujahrs- und dem Feuerfest, denke ich oft an das christliche Osterfeuer. Und unser leckeres persisches Essen erfreut auch die deutschen Freunde.“ Mitte der 1980er-Jahre wollte Nadjafis nach Schweden auswandern, doch ein familiärer Schicksalsschlag führte sie nach Paderborn. „In den ersten sechs Monaten habe ich viel geweint“, erzählt Malihe Nadjafi. „Plötzlich war ich in einer kleinen, fremden Stadt, weit weg von der Großstadt Teheran, wo ich so viele Möglichkeiten hatte.“ Die Anfangszeit ist schwierig. Abbas Nadjafi kann zwar sofort arbeiten, übernimmt das Geschäft seines verstorbenen Bruders, doch als er beruflich in den Iran reist, wird er dort mehr als ein Jahr lang festgehalten. Malihe Nadjafi ist damals schwanger. „Ich hatte viel Unterstützung von einer deutschen Familie und auch von der Kirche“, sagt sie. Heute helfen die Nadjafis anderen Einwanderern, vornehmlich – auch wegen der gemeinsamen Sprache – Iranern und Afghanen.

Die belgische Kalligraphin Goedele Soetewey hat Malihes „Wort für Wort-Geschichte“ aufgeschrieben – auf Englisch und auf Deutsch: Zwei große, ganz unterschiedlich wirkende „Schrift-Bilder“ sind entstanden, Dokumente gelebter Geschichte. Als Malihes Mann Abbas, sie sah, schlug er der Kalligrafin vor, er könne eine dritte Version auf Persisch hinzufügen. So entstanden ein anregender Dialog und ein beeindruckendes Ergebnis.

Ich habe erfahren, dass ich mich überall zuhause fühlen kann …
Dominique Charli trifft Kalligrafin Eveline Petersen-Gröger

„Grob 25 Mal bin ich in meinen Leben umgezogen“, erzählt Dominique Charli. Geboren im kleinen französischen Städtchen Meaux ging es zum Studium ins nahegelegene Paris, später quer durch Deutschland, dann auf die Kanareninsel La Palma und schließlich nach Paderborn. „Durch diese Lebensreise habe ich erfahren, dass ich mich überall zuhause fühlen kann, wenn ich in mir ruhe“, erzählt Dominique Charli. Dominiques Ursprungsfamilie hat neben französischen auch polnische Wurzeln, die ihres Mannes liegen in Frankreich, Deutschland, Portugal und Spanien. Ein Melting Pot und gar nicht so ungewöhnlich. Persönliche Odysseen sind seit Jahrtausenden Herausforderung und Chance, Motor für Fortschritt und kulturelle Entwicklung. „Mir ist bewusst, dass ich als Französin privilegiert bin“, sagt Dominique Charli. „Viele neue Bürger aus entfernten Ländern und Kulturen haben es heutzutage nicht so leicht. Die Begegnung mit der Fremde ist aktuell eine große Herausforderung und ich finde alle hiesigen Bestrebungen, kulturelle Brücken durch Veranstaltungen herzustellen, sehr wertvoll.“

Lebensreise und Freiheit das sind zwei der zentralen Worte, die die in Norddeutschland lebende Kalligrafin Eveline Petersen-Gröger hervorgehoben hat. Dominique Charli ist an diesem Abend nicht von ihrer Seite gewichen und hatfasziniert zugeschaut. Die Chemie zwischen den beiden Frauen stimmte gleich.

Liebeserklärung an P.
Tatjana Lemler trifft Kalligrafin Christiane Pucher

„Es war eine „Zwangsheirat“ im weitesten Sinne, die sich später zur einer der größten Lieben meines Lebens entwickelt hat.“ Das ist einer der ersten Sätze in Tatjana Lemlers ungewöhnlichem Text. Auf zwei Seiten – halb (Liebes-)Brief, halb Essay – zeigt die gebürtige Russin aus Kasachstan ihre Gefühle, lässt in „P.“ (= Paderborn) Erlebtes und Erlittenes auch mal mit feiner Ironie aufblitzen. Mit 16 Jahren, 1979, verlässt sie Russland, kommt nach Paderborn, erlernt die fremde Sprache und schafft den Sprung aufs Gymnasium. Nach dem Fachabitur verlässt sie P., doch sie hat Sehnsucht, Heimweh nach der alten, neuen Heimatstadt. In poetischen Worten beschreibt Tatjana Lemler all das, was sie an Paderborn liebt: Mauerfragmente die von früher erzählen, das viele Wasser, den Zauber geschichtsträchtiger Orte, den Dom, die Chöre, denen sie dort zuhören kann, den Trubel der Libori-Woche … „In diesen ca. 20 Jahren habe ich dich kennen und lieben gelernt, und das war überhaupt nicht schwer“, heißt es am Ende ihrer Leibeserklärung an Paderborn.

Aus dem poetischen Text, der auf zwei profanen Druckseiten daher kommt, machte die in Paderborn lebende Kalligrafin Christiane Pucher mit ihrer „Kunst des Schreibens“ ein einzigartiges und wunderschönes Dokument der Erinnerung.

Freundlichkeit kostet nichts und bringt dich immer weiter…
Christelle Lindhauer trifft Kalligrafin Sigrid Artmann

„Ich bin ein karibisches Mädchen“, sagt Christelle Lindhauer und erzählt, dass es für sie nicht so einfach war, die deutsche Pünktlichkeit und Gründlichkeit zu erlernen. Mit 16 Jahren ist sie hergekommen. In ihrer Heimat Haiti war sie nicht mehr sicher. „In meiner Kindheit war es ein Traum dort zu leben“, erzählt sie. Ihre Familie hat deutsche Wurzel, und als sich die Lebenssituation auf der Karibikinsel verschlechterte, wurde Christelle zur Tante nach München geschickt. „Da habe ich mich lange wohl und heimisch gefühlt“, sagt sie und fügt hinzu: „Jetzt fühle ich mich hier zuhause aber ich bin immer noch dabei, diese kleine Stadt, die mir jeden Tag mehr ans Herz wächst, zu entdecken und freue mich auf all die Überraschungen, die auf mich warten.“ Christelle sagt von sich selbst, dass sie sowohl die deutsche Gründlichkeit als auch die karibische Gelassenheit verkörpert und ergänzt: „Ich erziehe meine Kinder nach dem Motto „Freundlichkeit kostet nichts und bringt dich immer weiter.“

Die Schriftkunst der aus dem Süden Deutschlands stammenden Kalligrafin Sigrid Artmanns ist ungezähmt, ein bisschen unberechenbar und fröhlich  – das passt hier sehr gut. Dem „karibische Mädchen“ mit dem „Sonnenscheingemüt“ und der sprichwörtlichen Gelassenheit hat sie in roten Lettern einen besonderen Platz in ihrer Kalligrafie reserviert.

Staunen über Kirche, Kultur und Kirmes
Kalligrafin Joke Boudens bringt Wicher Broers Geschichte zu Papier

Seit mehr als 20 Jahren lebt der Niederländer Wicher Broer in Paderborn, seit 10 Jahren ist er als Stadtführer aktiv. Was war hier fremd für ihn? Was hat ihn erstaunt? In seiner Geburtsstadt Enschede, spielte die Textilindustrie eine große Rolle. „Sie war dadurch stark politisch linksorientiert. Religion hatte in dieser Gesellschaft keinen großen Stellenwert“, schreibt er und ergänzt: „Weil ich u.a. pädagogisch tätig war, kam ich automatisch in Kontakt mit katholischen Trägern. Dadurch beobachtete ich kirchliche Einflüsse auf viele Bereiche dieser Gesellschaft. Besonders prägte mich das große jährliche Liborifest im Sommer.“ Der Umgang mit den Reliquien, die durch die Stadt getragen werden, während nebenan die Menschen auf der Kirmes feiern, aber auch die Kultur der Schützenvereine riefen bei Wicher Broer großes Erstaunen hervor. Doch durch seine Tätigkeit als Gästeführer habe er die vor allem den Dom mit all seinen vielen kulturellen Aspekten lieben gelernt.

Die Kalligrafin Joke Boudens aus Brügge sagt über ihre Arbeit: „Lange Zeit konnte ich mich nicht zwischen Lettering und Illustration entscheiden, bis ich schließlich feststellte, dass ich beides gut miteinander kombinieren kann.“ Und das sieht man auch bei ihrer Arbeit für Wicher Broer, auf der sie zentral – zwischen fast architektonisch anmutenden Schriftblöcken – den Turm des Paderborner Doms platziert hat.

Ich habe hier meinen Platz gefunden…
Jennifer Mc Dormand trifft den Kalligrafen Brody Neuenschwander

Kann ich als Amerikanerin auch auf Deutsch witzig sein? Kann ich als Au Pair europäische Kinder zum Lachen bringen? Mit einem One-Way-Ticket ab Chicago Airport startete die damals 23-jährige Jennifer McDormand ihre Reise ins Ungewisse. Über Österreich geht es ins bayrische Bamberg, Jahre später schließlich nach Paderborn. Dunkel Zeiten habe sie erlebt, berichtet Jennifer, die sich lange sprachlich und kulturell nicht wirklich verstanden und gesehen fühlt. „Ich sehnte mich danach, Teil von irgendetwas zu sein“, erzählt sie. Es ist die Paderborner Familie ihres späteren Ehemannes, die ihr die lange vermisste Geborgenheit und Akzeptanz geben kann. „Ich werde immer einen besonderen Platz in meinem Herzen für andere ‚Ausländer‘ haben“, schreibt Jennifer McDormand in ihrem Text. „Wenn wir uns treffen, werden wir intuitiv ein kleines Stück voneinander verstehen. Wir werden ein wissendes Lächeln teilen, ein Nicken oder auch nur einen flüchtigen Blick. Denn wir wissen, was es bedeutet, ein ‚Ausländer‘ zu sein.“

Der Kalligraf und Künstler Brody Neuenschwander hat Jennifers Geschichte in großen Bögen, mit vielen Farben und ganz unterschiedlichen Lettern festgehalten. „Als Künstler sind es die Sprache und die Probleme von Sprache, die mich interessieren“, sagt Brody Neuenschwanger. „Schreiben oder Textkunst sind für mich Möglichkeiten, die Spannung zwischen dem, was wir zu wissen glauben, und dem, was wir tatsächlich wissen, zu untersuchen oder aufzuzeigen. Und natürlich ist es auch ein Prozess der Kommunikation.“

Der Gesang der Muse geht weiter

Für alle Teilnehmer*innen war es ein inspirierender und bewegender Abend und es wurden Kontaktdaten ausgetauscht, um zukünftig in Verbindung zu bleiben.

Alle Fotos: ©Harald Morsch

Einen wunderschönen guten Tag. Ich möchte mich gerne einmal vorstellen: Mein Name ist Adriana Papadopoulou. Ich studiere Germanistische Literaturwissenschaften im Einfach-Master an der Universität Paderborn und darf mein außeruniversitäres Praktikum im Paderborner Diözesanmuseum absolvieren. Der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität habe ich es zu verdanken, dass ich in der diesjährigen Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” hinter die Kulissen blicken darf. So begleite ich nun auch die öffentliche Reihe ,,Dialoge im Museum” mit Blogbeiträgen, in denen ich die gemeinsamen Abende Revue passieren lasse.

Griechischer Klappspiegel mit der Darstellung des Meeresungeheuers Skylla, Bronze, Eretria, um 320 v. Chr., Staatl. Museen zu Berlin

Am 14.11.2024 fand der zweite Gesprächsabend in großer Runde im Diözesanmuseum statt. Unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Aneignung führten uns der Gastredner Prof. Dr. Joachim Jacob von der Universität Gießen, Prof. Dr. Lothar van Laak von der Universität Paderborn und die Kuratorin der Ausstellung Dr. Christiane Ruhmann durch den Abend.

Zur Einführung wurde am Beispiel eines antiken Klappspiegels mit Skylla-Darstellung und eines mittelalterlichen Sirenenaquamaniles der Umgang des Mittelalters mit antiken Inhalten nachskizziert. Im Anschluss widmeten wir uns Franz Kafkas Werk ,,Das Schweigen der Sirenen” (1917).

Antikenrezeption: aneignen, überprüfen, verbessern, einverleiben?

Die mittelalterlichen Klöster mit ihren Schreibstuben und Bibliotheken waren Orte der Antiküberlieferung, die das Wissen der Antike selektiv in Form von architektonischen Gestaltungselementen, Malerei und Schriftkunst rezipierten. Die Inhalte wurden gewiss nicht bloß übernommen, sondern sorgfältig auf ihre Tauglichkeit für das Christentum hin überprüft. Ein antiker Text, der zwar als geistig und sprachlich hervorragend verstanden werden konnte, aber von einem christlichen Geistlichen als heidnisch hätte eingestuft werden können, brauchte besondere Argumente, um als wertvolles und überlieferungswertes Kulturgut ausgewiesen zu werden.

So konnte in Corvey das Bild des gegen das Seemonster (,,Skylla”) kämpfenden Odysseus als Präfiguration für den Erzengel Michael dienen.

Daran wird deutlich, dass der antike Stoff erst fragmentiert und anschließend transformiert in die eigene Kultur überführt wurde. Demnach wurden also nach einem bestimmten religiös-didaktischen Sinn die antiken Texte mit christlichen Semantiken angefüllt.

Ein weiteres Beispiel für den mittelalterlichen Umgang mit dem antiken Stoff zeigt das Sirenenaquamanile aus dem Kunstgewerbemuseum Berlin. Das Gefäß zeigt sich als eine Mischung aus bekrönter Frau, Vogel und Fisch. Grundlage mag ein Text des antiken Dichters Horaz gewesen sein. Dieser beschreibt in seiner ars poetica die Dichtkunst – die gute wie auch die schlechte. Letztere schildert er wie ein Mischwesen aus verschiedenen menschlichen und tierischen Einzelteilen.

Die Erscheinung und Kunstfertigkeit des Aquamaniles verdeutlicht also nicht nur den hohen Bildungsgrad des Auftraggebers bzw. Künstlers, sondern darüber hinaus auch die Fähigkeit, die antiken Inhalte für das Mittelalter angebracht rezipieren zu können.

Beide Exponate – Wandmalerei und Aquamanile – führen weiterhin vor, wie der antike Stoff für den eigenen kulturellen Gebrauch habhaft gemacht wurde.

Wie sieht es jedoch mit unserem Umgang mit Überlieferungen, Geschichten und Mythen aus?

Sirenenaquamanile, Bronze, aus dem Schatz des Stifts St. Dionysius zu Enger/Herford, um 1230

Kafkas Sirenen schweigen wirkungsmächtig, dafür spricht sein Text

Kafkas Text versucht auf die vielschichtigen Fragen einzugehen, indem er die Kraft der Imagination und die antike Odysseus-Erzählung dazu gebraucht, dem Rezipienten gedankliche Experimentierräume zu eröffnen.

„Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.

Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.

Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.

Sie aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.

Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.

Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.“

Es ist spannend zu sehen, dass unsere Lebenswirklichkeit auf bestimmte Problemstellungen im Alltag keine Lösungen geben kann und wir uns neue Freiräume erschließen müssen, um mit unseren Lebenserfahrungen umgehen zu können. Die Kunst bietet sich als Reflexions- und Projektionsgegenstand gut an, weil sie ebenso frei von Regelungen ist. Jede*r darf sich der Kunst mit ihren/seinen Erfahrungen und Wissen annähern, ohne Angst haben zu müssen, von ihr zurechtgewiesen zu werden. Es kann sogar als kindliches Lernspiel betrachtet werden, wenn die existentiellen Herausforderungen mit den Mitteln der Kunst beschreiben werden können – nicht mit den Mitteln der Welt.

v. links n. rechts: Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann, Prof. Dr. Joachim Jacob (Uni Gießen) und Leiter der Reihe "Dialoge im Museum" Prof. Dr. Lothar van Laak (Uni Paderborn)

Die Besuchenden am Veranstaltungsabend waren frei, sich von Kafkas Text verzaubern zu lassen. Während Prof. Dr. Jacob von der Kraft der Imagination fasziniert war, an der die Wirklichkeit zerbricht, fiel der Kuratorin Dr. Ruhmann auf, dass der Text vorgibt, historische Fakten wiederzugeben, obwohl diese nur literarisch gemeint sind. Der wechselnde Erzählgestus ließ einen der Besucher fragen, welche Instanz zu den Lesern spräche. Unmerklich beschreibe der Text die Entwicklung eines Mythos/einer Geschichte, ohne dass Einwände erhoben werden könnten. Zurecht wurde damit auf das Gefahrenpotential verwiesen, welches aus einem falschen Umgang mit Informationen, Fakten und Wissen resultieren kann.

Unabhängig davon denkt Kafka auch daran, den Lesern Hoffnung zu schenken. Wenn es im Leben schwierig werden sollte, gibt es einen Ort, der von niemandem erreicht werden kann: Das Innere. Daraus kann Kraft geschöpft werden.

Ein herzliches Dankeschön für die Organisation des schönen Abends und natürlich auch an die große Besuchenden-Runde. Leider ging der zweite Gesprächsabend viel zu schnell vorbei. Die Vielzahl der Meldungen, Kommentare und Beobachtungen der Besuchenden wollte gar nicht abbrechen. Spitze!

Sollten Sie noch nicht die Gelegenheit dazu gehabt haben, an einem Gesprächsabend teilzunehmen, so besteht am 16. Januar die nächste Gelegenheit. Hier wird sich Herr Prof. Dr. Lothar van Laak gemeinsam mit Frau Prof. Dr. Barbara Beßlich (Literaturwissenschaft), Heidelberg mit der Odysseus-Thematik auseinandersetzen.

Lass Sie sich überraschen!

Adriana Papadopoulou

Credits (Texte)

Horatius, Quintus Flaccus. Ars Poetica.

Link zum lateinischen Originaltext

Link zu einer deutschsprachigen Übersetzung

Kafka, Franz: Das Schweigen der Sirenen. Hrsg. v. Roger Hermes. Fischer Klassik 2010.

Link zum Primärtext

Link zum Primärtext

Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter. Hrsg. v. Holger Kempkens und Christiane Ruhmann. Michael Imhof Verlag 2024. S. 268-269.; S. 303-311.; S. 570-572.

Credits (Abbildungen)

Klappspiegel: Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung / Foto: Johannes Kramer

Sirenenaquamanile: Staatliche Museen zu Berlin | Kunstgewerbemuseum | Foto: Arne Psille

Gruppenfoto: Adriana Papadopoulou

Einen wunderschönen guten Tag. Ich möchte mich gerne einmal vorstellen: Mein Name ist Adriana Papadopoulou. Ich studiere Germanistische Literaturwissenschaften im Einfach-Master an der Universität Paderborn und darf mein außeruniversitäres Praktikum im Paderborner Diözesanmuseum absolvieren. Der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität habe ich es zu verdanken, dass ich in der diesjährigen Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” hinter die Kulissen blicken darf. So begleite ich nun auch die öffentliche Reihe ,,Dialoge im Museum” mit Blogbeiträgen, in denen ich die gemeinsamen Abende Revue passieren lasse.

Corvey und der Gesang der Sirenen

Sirenen gehören schon immer zu der Welt der mythologischen Erzählungen. Auch Odysseus begegnet auf seiner Irrfahrt durch die Meere nicht nur Mischwesen wie der Skylla und der Caryptis, sondern auch verführerisch singenden Sirenen. Gewiss kann diese Begegnung mit diesen monströsen Wesen nicht friedlich ausgehen. Als griechischer Held muss Odysseus gegen sie standhalten und seinen Scharfsinn beweisen. Interessant ist, dass das christliche Kloster Corvey aus dem 9. Jahrhundert diese antike Szene als so bedeutend empfand, dass sie an die Wände des Johanneschores des Corvyer Westwerks gemalt wurde (siehe Rekonstruktion oben).

Heute stellt diese Wandmalerei die einzig erhaltene mittelalterliche Darstellung der Odyssee dar. Für die Sonderausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ wurde sie rekonstruiert und als Animation zum Leben erweckt. Mit den digitalen Mitteln unserer Zeit können wir antike Figuren zwar wiederbeleben, aber wir können die Dargestellten nicht zum Singen bringen. Und so bleibt die Frage, die sich bereits das 18. Jahrhundert stellte: Wie könnten die Sirenen gesungen und sich angehört haben?

Die Oper zu Gast im Museum

Um dieser Frage auch für die heutige Zeit nachzugehen, lud das Diözesanmuseum am 24.10.24 gemeinsam mit Prof. Lothar van Laak (Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaften, Uni Paderborn) ein, einen musikalischen Abend im Dialog zu begehen. Der Gastdozent – Prof. Dr. Andreas Münzmay (Musikwissenschaftliches Seminar Paderborn / Detmold) – zeigte an drei Stationen anhand von ausgewählten Opernstücken, wie in den letzten Jahrhunderten der Odysseus-Stoff wahrgenommen und akustisch interpretiert wurde.

Jedes Stück nahm die vielen Zuhörenden auf eine neue Klangreise mit. In jedem Stück versuchte die Kunst durch die Thematisierung von Sirenen, Musen und der Zauberin Kirke auf verschiedene Gesichtspunkt der Verführung, der Odysseus aber auch wir heute ausgesetzt sein könnten, aufmerksam zu machen. Hören wir nicht alle Stimmen, die uns zweifelsohne sinnlose Versprechen machen, aber unser Leben erschweren? Statt der flüsternden Stimmen und leichten Schritte hörte man im Museum nun Töne und Gesang aus folgenden Stücken (hier veranschaulicht durch Videos und Abbildungen beispielhafter Inszenierungen):

Claudio Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in patria“ (1640)

 

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Jean-Marie Leclairs ,,Scylla et Glaucus” (1746)

 

Jean-Marie Leclairs ,,Scylla et Glaucus” (1746)

 

Helmut Lachmanns ,,Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1997)

 

(Die gelisteten Stücke lassen sich auch im Netz als vollständige Aufführungen oder einzelne Musikaufnahmen finden.)

 

Die Stücken verdeutlichen, dass sich die Komponisten nicht allein auf Odysseus fokussierten, sondern auch Neben- und Randfiguren neue Stimmen verliehen. Lachmann ging sogar so weit, die Sprache und den Gesang experimentell auseinanderzuziehen und mit Musik wieder neu zusammenzusetzen. Für die Oper ist Odysseus’ Seefahrt also bis heute eine Schatztruhe, die immer wieder neu geöffnet werden kann.

Das Publikum spricht

Zunächst bewachte die Bärin die Musiknoten, während die Abenddämmerung die Exponate kleidete. Im nächsten Moment tanzten die Noten vor den mittelalterlichen Handschriften, um abschließend vor Brody Neuenschwanders noch leeren Leinwand halt zu machen. Auf diesem Weg führte uns die Reihe ,,Dialoge im Museum”, in der das Diözesanmuseum in Zusammenarbeit mit der Universität Paderborn das Erbe des Odysseus zum Thema machte. Vor dieser beeindruckenden Kulisse ließ sich das Publikum inspirieren und ergriff sogar das Wort. Damit war das Ziel des Abends erreicht: Jede Person sollte die Möglichkeit erhalten, die Musik mit ihrer Stimme zu übertönen und ihre Meinung in einen neutralen Raum zu äußern. Beispielsweise bezog sich eine Beobachtung auf Penelope (Odysseus’ Ehefrau), die zusammen mit ihrem Sohn auf Odysseus‘ Rückkehr wartete. In der antiken Textvorlage kann die Ehefrau keine neue Familie gründen, sondern nur auf ihren Mann warten. Im Vergleich dazu sind in den vergangenen Jahrzehnten Patchwork-Familien in unserer Gesellschaft normal geworden. Weiterhin bemerkte eindrucksvoll eine Stimme, dass die Probleme, die Odysseus auf seiner Reise begegnet, die Schwierigkeiten des Menschseins nachzeichne. Das sind wichtige Aspekte, die zeigen, dass die Odysseus-Erzählung heute noch aktuell ist und nicht in der Antike verstauben muss.

 

Das war also der erste spannende Abend. Vielen lieben Dank!

Am 14. November wird uns mit der nächsten Episode ,,Dialoge im Museum” wieder die Gelegenheit gegeben werden, gemeinsam ins Gespräch zu kommen. Komm also ruhig vorbei, sei nicht schüchtern. Wir können an den Abenden im Museum sogar laut miteinander über die Exponate und die Kunst reden.

Adriana Papadopoulou

Credits

©Corvey | Westwerk Kloster Corvey | Foto: Kalle Noltenhans, Rekonstruktion: Christoph Stiegemann

©Wiener Staatsoper. https://www.youtube.com/watch?v=hmDZLMhhDfc. Die Wiener Staatsoper führt an fünf Tagen im November 2024 eine Neuinszenierung von Monteverdis ,,Il ritorno d’Ulisse in patria” auf.

©Landestheater Niederbayern. https://www.landestheater-niederbayern.de/events/433.

©Theater Kiel. https://www.theater-kiel.de/oper-kiel/repertoire/produktion/titel/skylla-und-glaukos.

©Deutsche Oper Berlin. https://deutscheoperberlin.de/de_DE/videos/1805.

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