Einen wunderschönen guten Tag. Ich möchte mich gerne einmal vorstellen: Mein Name ist Adriana Papadopoulou. Ich studiere Germanistische Literaturwissenschaften im Einfach-Master an der Universität Paderborn und darf mein außeruniversitäres Praktikum im Paderborner Diözesanmuseum absolvieren. Der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität habe ich es zu verdanken, dass ich in der diesjährigen Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” hinter die Kulissen blicken darf. So begleite ich nun auch die öffentliche Reihe ,,Dialoge im Museum” mit Blogbeiträgen, in denen ich die gemeinsamen Abende Revue passieren lasse.
Am 16.01.25 führten uns Prof. Dr. Lothar van Laak (Universität Paderborn) und die Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann zum letzten Mal durch die Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike”. Damit fand die Reihe ,,Dialoge im Museum“ ihren – zart in Geschichte und Literatur eingehüllten – Abschluss.
Zu Beginn wurde die Weitergabe von geschichtlichen Ereignissen thematisiert. Das beinhaltete auch die subjektive Wahrnehmung von historischen Fakten, Dingobjekten und Personen. Der zweite Teil des Abends widmete sich der gemeinsamen Auseinandersetzung mit der lyrischen Inszenierung von Raum und Figuren. Sehr schön war, dass die einzelnen Nachfragen und Kommentare der Besuchenden sowohl neue Diskussionsthemen boten als auch auf vergangene Abende rekrutierten.

Gegen Vorstellungen erzählen, um Ideenräume zu öffnen
Was ist dein erster Gedanke bei dem Wort ,,Mittelalter”? Ist es vielleicht ,,dunkel – böse”; ,,rückständiges Zeitalter”; ,,ungewaschene Mönche in kleinen unbeleuchteten Klosterzellen”; ,,chaotische Gesellschaft”? Mit dem Abschluss der hochentwickelten Antike kam also das ,,dunkle Mittelalter”?
Solche negativen Assoziationen haben wir dem Humanismus zu verdanken, der die Vorstellung des Mittelalters als unzivilisiertes Zeitalter prägte. Auffällig ist, dass wir heute noch diese Vorstellungen in unseren Köpfen verwurzelt wiederfinden, obwohl sie nicht der historischen Realität entsprechen. Es ist eine große Herausforderung, gegen einen Diskurs zu erzählen, der seit einigen Jahrhunderten Zeit hatte, sich festzusetzen.
Das Diözesanmuseum griff diesen Umstand auf, indem die Figur des Odysseus zentral in die Sonderausstellung gesetzt wurde. Es entstand ein immersiver Erinnerungsraum, in dem so einige Exponate auf die mythische Gestalt aus dem 9. Jahrhundert verwiesen und mit ihr interagierten. Historisch gesehen ist es jedoch nicht wahrscheinlich, dass die ebenfalls in der Ausstellung thematisierten Saxones zur Zeit des Corveyer Klosters mit dieser Figur in Kontakt gekommen war. Der regionale Bezug macht es hier dennoch unmöglich, die Saxones zu vergessen. Sie hinterließen kaum schriftliche Überreste, besaßen vielmehr eine Kultur der Mündlichkeit. An ihrem Beispiel wird deutlich, dass Geschichte keine fest umschlossene Wundertüte darstellt. Es wird in der Geschichte immer Bereiche geben, die für uns ein Geheimnis bleiben werden. Obwohl beispielsweise die Westfalen des 9. Jahrhunderts Teil der Geschichte des Raumes waren, weiß man heute nicht mehr, wie genau, denn die schriftlichen Überlieferungen fehlen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt zeigte sich auch anhand des Verweises einer Besucherin auf Odysseus‘ Hund (,,Αργος“, dt. Argos) erinnerte. So wartet in der Odyssee der Hund 20 Jahre auf sein Herrchen und beide erkennen sich trotz unterschiedlicher Gestalt wieder (die Szene lässt sich in Homers ,,Odyssee” im 17. Gesang Vers 290-304 nachlesen. Vgl. Quellen.). Es zeigt das Moment der Anagnorisis (des Wiedererkennens) in einer anderen Wahrnehmungsform. Der Hund stellt eine animalische Zeugenschaft dar, welche die materielle Identität von Odysseus olfaktorisch aufspüren kann. Die Nase eines Hundes kann man schließlich nicht täuschen. Er bewertet Odysseus nicht nach seinem Aussehen oder seinen Handlungen, er macht auch keine Vorwürfe oder klagt an, sondern bleibt der treu ergeben, wartende Diener.
Im Hinblick auf das bereits Gesagte soll deutlich werden, dass Geschichte und Identitäten aus kulturellen Formationen erwachsen können. Wir verändern uns (gegenseitig) und wir werden verändert, aber wir können die Richtung entscheiden, unabhängig davon, wer oder was uns (er)kennt.
Der lyrische Raum und seine Figuren
Der zweite Teil des Abends befasste sich mit Joseph von Eichendorffs ,,Am Strom” (1837) und Robert Walsers ,,Sirene” (1930). Die Entstehungszeit der beiden Gedichte verortet das ältere in die literarische Epoche der Romantik, während Walser zu den Autoren des 20. Jahrhunderts gezählt wird. Inhaltlich befassen sich beide Werke mit der Imagination einer Sirene, wenngleich sie unterschiedliche Strategien anbieten, um diese als weiblich verstandene Figur zu versprachlichen.
Joseph von Eichendorff
Am Strom
(1837)
Der Fluß glitt einsam hin und rauschte
Wie sonst, noch immer, immerfort,
Ich stand am Strand gelehnt und lauschte,
Ach, was ich liebt‘, war lange fort!
Kein Laut, kein Windeshauch, kein Singen
Ging durch den weiten Mittag schwül,
Verträumt die stillen Weiden hingen
Hinab bis in die Wellen kühl.
Die waren alle wie Sirenen
Mit feuchtem, langen, grünen Haar,
Und von der alten Zeit voll Sehnen
Sie sangen leis und wunderbar.
Sing‘ Weide, singe, grüne Weide!
Wie Stimmen aus der Liebsten Grab,
Zieht mich Dein heimlich Lied voll Leide
Zum Strom von Wehmuth mit hinab.

Das erste Gedicht ,,Am Strom” beschreibt die Naturerfahrung eines lyrischen Ichs, das emotional geladen während der Naturbetrachtung in eine Imaginationswelt hinübergeht. Die Zuschreibung der Naturphänomene lässt das lyrische Ich männlich erscheinen. Es befindet sich am Strand, lauscht den Geräuschen des Wasser- und Windspiels und beobachtet präzise die Bewegungen der Weide. Diese Faktoren erschaffen in der Vorstellung des Lyrischen Ichs einerseits Sirenen, andererseits ihren Gesang, den es eigentlich nicht hören kann. Wer in dieser inszenierten Stille zuhört, ist wiederum nicht weiter von Bedeutung, da der Versuch unternommen wird, die Stille in der Vorstellungswelt zu füllen. Entscheidend ist, dass die imaginierte Figur und das Lyrische Ich in der Natur sowohl aufgehen als auch sich darin auflösen. Was sagt das über unseren Umgang mit Kultur?
Das zweite Gedicht ,,Sirene” geht nicht von einer gesteigerten Phantasie aus, sondern arbeitet mit sprachlichen Zuschreibungen. Das Lyrische Ich beschreibt hier zunächst einmal die unzeitgemäße Denkhaltung einer überaus schönen weiblichen Figur, die sich in einem modrigen Zimmer aufhält. Die Vorstellung ,,[…] Gott werde ihre Schritte leise lenken” beinhalten, dass eine höhere Instanz das Denken für die weibliche Figur übernehme und ihre weiteren Handlungen steuern könnte. Die intendierte Übergabe von Denken und Handeln kann an dieser Stelle als eine Schwäche verstanden werden. Darin liegt latent die Aufforderung verborgen, diese Grundeinstellung abzulegen und sich um Emanzipation zu bemühen. Der persönliche Rückzugsort abseits der Gesellschaft wird in dem Gedicht als identitätsbrechende Umgebung markiert, da die schöne weibliche Figur neben einer ,,schimmelige[n] Wand” gestellt wird. Die weibliche Figur scheint ganzjährig starr in diesem Raum verankert zu sein, weshalb sie nicht aus den Beschreibungskategorien heraustreten kann. Sie ist daher den einseitigen Attribuierungen der Beobachter ausgesetzt. Darüber hinaus wird die Selbstwahrnehmung der ,,Sirene” und ihrer Gefühlswelt nicht weiter berücksichtigt. Sie müsste neue Strategien und Handlungsweisen entwickeln, um dem Schubladendenken der anderen zu entkommen. Im Grunde führt das Gedicht vor, dass das Potenzial von ,,Kultur” von den Zuschreibungen einer Vielzahl von unbestimmten Betrachter*innen abhängig ist.
Gehabt euch wohl!
Jetzt ist der Moment gekommen, an dem ich mich von Euch verabschieden muss. Seit Oktober durfte ich als Praktikantin an abwechslungsreichen Tages- und Abendprogrammen teilnehmen. Ich traf viele verschiedene Museumsmitarbeiter*innen, die mit ihrem großen Wissen, ihrem motivierten Engagement und ihrem liebevollen Fingerspitzengefühl dem Museum seine Seele verleihen. Obwohl sie sich mit Objekten/Exponaten und historischen Diskursen auseinandersetzen, schauen sie darüber hinaus und versuchen gemeinsam ein Museum zu gestalten, in dem jeder Mensch etwas zum Staunen finden kann. Faktoren wie Alter, Kultur, Herkunft, Sprache, Bildungshintergrund spielen hierbei keine Rolle, da sie die Türen des Diözesanmuseums für alle Menschen gleich öffnen. Es ist sehr inspirierend, den Einsatz und die Geduld der Mitarbeitenden und der Museumsbesucher*innen zu sehen. Sie geben Hoffnung, dass wir gemeinsam als Gesellschaft voneinander lernen und von den Blickwinkeln des anderen profitieren können. Ich denke, wir wachsen dadurch nicht nur im geistigen Sinne, sondern gleichwohl im menschlichen, denn Kultur und Geschichte ist ein Teil unserer Identität. Wir stehen deshalb gleich in der Verantwortung, sie zu bewahren, zu beschützen und weiterzutragen. Aus der „Dialoge im Museum“- Reihe haben wir schließlich auch gelernt, dass jede*r von uns eine (unerforschte) Geschichte neu schreiben kann. Theoretisch könnten wir alle also die Welt zu einem besseren Ort machen.
Adriana Papadopoulou
Quellenverzeichnis
- Eichendorff, Joseph v.: Am Strom. In: Mythos Sirenen. Texte von Homer bis Dieter Wellershoff. Hrsg. v. Werner Wunderlich. Stuttgart: Reclam 2007. S. 48.
- Walser, Robert: Sirenen. In: Mythos Sirenen. Texte von Homer bis Dieter Wellershoff. Hrsg. v. Werner Wunderlich. Stuttgart: Reclam 2007. S. 159.
- Köhken, Adolf: Perspektivisches Erzählen im homerischen Epos: Die Wiedererkennung Odysseus: Argos. In: Hermes, 131. Jahrg.,H. 4 (2003), S. 385-396.
Internetquellen