Einen wunderschönen guten Tag. Ich möchte mich gerne einmal vorstellen: Mein Name ist Adriana Papadopoulou. Ich studiere Germanistische Literaturwissenschaften im Einfach-Master an der Universität Paderborn und darf mein außeruniversitäres Praktikum im Paderborner Diözesanmuseum absolvieren. Der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität habe ich es zu verdanken, dass ich in der diesjährigen Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” hinter die Kulissen blicken darf. So begleite ich nun auch die öffentliche Reihe ,,Dialoge im Museum” mit Blogbeiträgen, in denen ich die gemeinsamen Abende Revue passieren lasse.
Am 14.11.2024 fand der zweite Gesprächsabend in großer Runde im Diözesanmuseum statt. Unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Aneignung führten uns der Gastredner Prof. Dr. Joachim Jacob von der Universität Gießen, Prof. Dr. Lothar van Laak von der Universität Paderborn und die Kuratorin der Ausstellung Dr. Christiane Ruhmann durch den Abend.
Zur Einführung wurde am Beispiel eines antiken Klappspiegels mit Skylla-Darstellung und eines mittelalterlichen Sirenenaquamaniles der Umgang des Mittelalters mit antiken Inhalten nachskizziert. Im Anschluss widmeten wir uns Franz Kafkas Werk ,,Das Schweigen der Sirenen” (1917).
Antikenrezeption: aneignen, überprüfen, verbessern, einverleiben?
Die mittelalterlichen Klöster mit ihren Schreibstuben und Bibliotheken waren Orte der Antiküberlieferung, die das Wissen der Antike selektiv in Form von architektonischen Gestaltungselementen, Malerei und Schriftkunst rezipierten. Die Inhalte wurden gewiss nicht bloß übernommen, sondern sorgfältig auf ihre Tauglichkeit für das Christentum hin überprüft. Ein antiker Text, der zwar als geistig und sprachlich hervorragend verstanden werden konnte, aber von einem christlichen Geistlichen als heidnisch hätte eingestuft werden können, brauchte besondere Argumente, um als wertvolles und überlieferungswertes Kulturgut ausgewiesen zu werden.
So konnte in Corvey das Bild des gegen das Seemonster (,,Skylla”) kämpfenden Odysseus als Präfiguration für den Erzengel Michael dienen.
Daran wird deutlich, dass der antike Stoff erst fragmentiert und anschließend transformiert in die eigene Kultur überführt wurde. Demnach wurden also nach einem bestimmten religiös-didaktischen Sinn die antiken Texte mit christlichen Semantiken angefüllt.
Ein weiteres Beispiel für den mittelalterlichen Umgang mit dem antiken Stoff zeigt das Sirenenaquamanile aus dem Kunstgewerbemuseum Berlin. Das Gefäß zeigt sich als eine Mischung aus bekrönter Frau, Vogel und Fisch. Grundlage mag ein Text des antiken Dichters Horaz gewesen sein. Dieser beschreibt in seiner ars poetica die Dichtkunst – die gute wie auch die schlechte. Letztere schildert er wie ein Mischwesen aus verschiedenen menschlichen und tierischen Einzelteilen.
Die Erscheinung und Kunstfertigkeit des Aquamaniles verdeutlicht also nicht nur den hohen Bildungsgrad des Auftraggebers bzw. Künstlers, sondern darüber hinaus auch die Fähigkeit, die antiken Inhalte für das Mittelalter angebracht rezipieren zu können.
Beide Exponate – Wandmalerei und Aquamanile – führen weiterhin vor, wie der antike Stoff für den eigenen kulturellen Gebrauch habhaft gemacht wurde.
Wie sieht es jedoch mit unserem Umgang mit Überlieferungen, Geschichten und Mythen aus?
Kafkas Sirenen schweigen wirkungsmächtig, dafür spricht sein Text
Kafkas Text versucht auf die vielschichtigen Fragen einzugehen, indem er die Kraft der Imagination und die antike Odysseus-Erzählung dazu gebraucht, dem Rezipienten gedankliche Experimentierräume zu eröffnen.
„Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.
Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.
Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.
Sie aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.
Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.
Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.“
Es ist spannend zu sehen, dass unsere Lebenswirklichkeit auf bestimmte Problemstellungen im Alltag keine Lösungen geben kann und wir uns neue Freiräume erschließen müssen, um mit unseren Lebenserfahrungen umgehen zu können. Die Kunst bietet sich als Reflexions- und Projektionsgegenstand gut an, weil sie ebenso frei von Regelungen ist. Jede*r darf sich der Kunst mit ihren/seinen Erfahrungen und Wissen annähern, ohne Angst haben zu müssen, von ihr zurechtgewiesen zu werden. Es kann sogar als kindliches Lernspiel betrachtet werden, wenn die existentiellen Herausforderungen mit den Mitteln der Kunst beschreiben werden können – nicht mit den Mitteln der Welt.
Die Besuchenden am Veranstaltungsabend waren frei, sich von Kafkas Text verzaubern zu lassen. Während Prof. Dr. Jacob von der Kraft der Imagination fasziniert war, an der die Wirklichkeit zerbricht, fiel der Kuratorin Dr. Ruhmann auf, dass der Text vorgibt, historische Fakten wiederzugeben, obwohl diese nur literarisch gemeint sind. Der wechselnde Erzählgestus ließ einen der Besucher fragen, welche Instanz zu den Lesern spräche. Unmerklich beschreibe der Text die Entwicklung eines Mythos/einer Geschichte, ohne dass Einwände erhoben werden könnten. Zurecht wurde damit auf das Gefahrenpotential verwiesen, welches aus einem falschen Umgang mit Informationen, Fakten und Wissen resultieren kann.
Unabhängig davon denkt Kafka auch daran, den Lesern Hoffnung zu schenken. Wenn es im Leben schwierig werden sollte, gibt es einen Ort, der von niemandem erreicht werden kann: Das Innere. Daraus kann Kraft geschöpft werden.
Ein herzliches Dankeschön für die Organisation des schönen Abends und natürlich auch an die große Besuchenden-Runde. Leider ging der zweite Gesprächsabend viel zu schnell vorbei. Die Vielzahl der Meldungen, Kommentare und Beobachtungen der Besuchenden wollte gar nicht abbrechen. Spitze!
Sollten Sie noch nicht die Gelegenheit dazu gehabt haben, an einem Gesprächsabend teilzunehmen, so besteht am 16. Januar die nächste Gelegenheit. Hier wird sich Herr Prof. Dr. Lothar van Laak gemeinsam mit Frau Prof. Dr. Barbara Beßlich (Literaturwissenschaft), Heidelberg mit der Odysseus-Thematik auseinandersetzen.
Lass Sie sich überraschen!
Adriana Papadopoulou
Credits (Texte)
Horatius, Quintus Flaccus. Ars Poetica.
Link zum lateinischen Originaltext
Link zu einer deutschsprachigen Übersetzung
Kafka, Franz: Das Schweigen der Sirenen. Hrsg. v. Roger Hermes. Fischer Klassik 2010.
Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter. Hrsg. v. Holger Kempkens und Christiane Ruhmann. Michael Imhof Verlag 2024. S. 268-269.; S. 303-311.; S. 570-572.
Credits (Abbildungen)
Klappspiegel: Staatliche Museen zu Berlin, Antikensammlung / Foto: Johannes Kramer
Sirenenaquamanile: Staatliche Museen zu Berlin | Kunstgewerbemuseum | Foto: Arne Psille
Gruppenfoto: Adriana Papadopoulou