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Studierende des Lehrstuhls „Kulturwissenschaft der Mode und des Textilen“ der Universität Paderborn besuchten in den vergangenen Monaten mehrfach das Diözesanmuseum, um textile Objekte der Sammlung genauer in Augenschein zu nehmen. Altardecke, Kelchvelum und Pontifikalhandschuhe wurden genau analysiert, beschrieben, fotografiert und mit den im Museum vorliegenden Informationen abgeglichen.

Die Wahl der Studentin Katharina Kaiser fiel auf ein kleines, zunächst unscheinbares Objekt. Ihre Arbeitsschritte und die überraschenden Forschungsergebnisse hat sie in diesem Blogbeitrag zusammengefasst.

In die Hand genommen…

Das Seidenpapier raschelt unter den vorsichtigen Berührungen der behandschuhten Hände. Zum Vorschein kommt ein etwa handgroßes, beiges Stück Stoff. Das schwarze Druckmotiv ist durch eine lachsfarbene Kreuzstich-Stickerei umrandet, welche wiederum durch eine Borte aus gelbem und blauem Garn eingefasst wird. Insgesamt ist die Textilie stark ausgeblichen, wobei die Vorderseite stärker betroffen ist als die Rückseite – was früher vielleicht einmal ein Rot war, erscheint nun in einem zarten Rosa oder Beige. Zudem ist die Textilie beschädigt: Am oberen linken Rand fehlt ein Stück, geradeso, als wäre es herausgerissen worden…

Fragen über Fragen

Diese kleine rechteckige Textilie ruft viele Fragezeichen hervor. Die erste Schwierigkeit stellt sich dem Betrachter bereits bei der Einordnung: Was soll dieses Stück Stoff überhaupt sein? Welchen Nutzen hatte es, bevor es seinem ursprünglichen Gebrauch enthoben und in die Museumssammlung aufgenommen wurde? Was ist auf dem Stoff dargestellt und welche Bedeutungen sind dadurch abzuleiten?

Der erste Schritt zur Beantwortung dieser Fragen führte über die genaue Betrachtung der Materialität des Objektes. Denn durch die Untersuchung seiner Stofflichkeit, der Verarbeitungstechniken, der Farbigkeit und seines Zustandes können in vielen Fällen bereits wichtige Hinweise zum Entstehungs- und Nutzungszusammenhang gesammelt werden.

Das missverstandene Objekt

Die Informationen, die anfangs zu diesem Objekt vorlagen, waren dürftig und uneindeutig. Weder über Materialität und Technik noch über das Dargestellte lagen gesicherte Informationen vor – geschweige denn über die Datierung oder den Hersteller. Die Inventarkarte(n) gab(en) jedoch darüber Auskunft, dass das Museum die Textilie im Jahre 1915 von einem „Fräulein Krahn“ aus Paderborn erworben hatte. Interessanterweise verzeichnet der Jahresbericht des Diözesanmuseums für das entsprechende Jahr bei der Auflistung der Objektankäufe „zwei Reliquientaschen, gestickt und gedruckt“. Das Objekt wurde von den Beteiligten also als ‚Reliquientasche‘ identifiziert und nicht als Einzelstück angekauft, sondern im Doppelpack. Die zweite ‚Tasche‘ ist heute allerdings leider nicht mehr aufzufinden. Ein Umstand, der die Einordnung der Textilie zusätzlich erschwerte. Doch gleichzeitig war dies ein entscheidender Hinweis für die Vermutung, dass es sich bei dem untersuchten Objekt um einen Teil eines sog. kleinen Skapuliers handeln könnte – und eben nicht um eine Reliquientasche!

alte Inventarkarte, Diözesanmuseum Paderborn
"How to waer a scapular"

Skapulier für Laien

Das kleine Skapulier ist ein Sakramentale, d.h. ein sakramentales Zeichen, dessen Wirkung auf der Weihe durch einen Priester und dem Vertrauen des Gläubigen beruht. Abgeleitet ist es von dem großen Skapulier (v. lat. scapula, Schulterblatt), welches Bestandteil vieler Ordenstrachten ist: ein rechteckiger Überwurf mit Kopfloch, welcher vorne und hinten am Träger herabhängt. Die verkleinerte Form des Skapuliers, zwei rechteckige Stoffstücke, die unter der Kleidung durch ein Band verbunden beim Träger auf Brust und Rücken aufliegen, ist v.a. ein Devotionszeichen der sog. Dritten Orden und religiöser Bruder- und Schwesternschaften. Mit dem kleinen Skapulier wird also von Laien die Verbundenheit zu einem bestimmten Orden symbolisiert und/oder mit seinem Tragen werden Gnadenverheißungen und Ablasszusagen verbunden. Aufgrund einer tradierten Vision des später heiliggesprochenen Karmeliter-Mönchs Simon Stock aus dem Jahre 1251 erlangte das Skapulier der Karmeliten die größte Bekanntheit und Verbreitung. In dieser Vision erhielt der Mönch ein braunes Skapulier von der Gottesmutter Maria zusammen mit dem Versprechen, dass der Träger unter ihrem besonderen Schutz stehe.

Entschlüsselung durch Vergleichsobjekte

Die These, dass es sich bei dem ausgewählten Objekt um ein Skapulier handelt, konnte durch eine Recherche in mehreren digitalen Museumsdatenbanken bestätigt werden. In der Sammlung des Londoner Victoria and Albert Museums konnten drei Skapuliere ausfindig gemacht werden, die durch ihre starke Ähnlichkeit als Vergleichsobjekte in Frage kommen. Sie werden in das 18. Jahrhundert datiert und sind deutscher Herkunft. Auf allen drei Objekten findet man das Kopfportrait eines Heiligen wieder, der durch zwei Engel gekrönt wird. Er wird mit seitlich gedrehtem Kopf, geschlossenen Augen, Schnittverletzung und Kopfbedeckung dargestellt. Ebenso halten die beiden Engel unterhalb des Kopfportraits kleine Skapuliere in den Händen. Die Übereinstimmungen in den Darstellungen sind so exakt, dass von einer gemeinsamen Vorlage ausgegangen werden muss. Anders als bei dem Objekt des Diözesanmuseums sind die Schriftzüge auf diesen Skapulieren noch vollständig lesbar. Die Vergleichsobjekte tragen den Schriftzug „S. ANASTASI Mar Ord Carmeli“. Es wird also auf den Heiligen Anastasius verwiesen, welcher eine besondere Rolle im Martyrologium des Karmeliterordens spielt. Auf diese Weise konnte der Dargestellte auch auf dem untersuchten Objekt aus Paderborn eindeutig als der Heilige Anastasius identifiziert werden. Die schlecht erhaltene Beischrift kann nun als „S. Anastasius Carm. […]“ gelesen werden.

Vergleichsobjekt: Skapulier, Deutschland 18. Jh., bedruckte Seide, V&A Museum
Vergleichsobjekt: Skapulier, Deutschland 18. Jh., bedruckte Seide, V&A Museum
Vergleichsobjekt: Skapulier, Deutschland 18. Jh., bedruckte Seide, V&A Museum

Der Heilige Anastasius

Anastasius, genannt Anastasius der Perser, dessen früherer Name Magundat gewesen sein soll, war der Überlieferung nach ein Soldat der Kavallerie in der Armee des persischen Königs Chosraus II. Die Erbeutung des Kreuzes Christi aus Jerusalem und das Massaker an den dortigen Christen durch die persische Armee soll ihn im Jahre 620 zur Taufe bewegt haben. Sieben Jahre nach seinem Eintritt in ein Kloster soll er aufgrund einer Vision dieses wieder verlassen und schließlich durch die Perser gefangen genommen und gefoltert worden sein. Sein Martyrium erlitt er schließlich am 22. Januar 628 in Bethsaloe, einer Stadt im heutigen Irak, wo er erhängt worden sein soll. Mit dem Wissen, dass es sich bei dem Abgebildeten um den Heiligen Anastasius handelt, wird auch die Kopfbedeckung, die er trägt, sinnfällig. Denn sie lässt sich auf diese Weise als sog. phrygische Mütze interpretieren, die auf seine persische Herkunft verweist.

Offene Fragen

Die Recherche und der daraus folgende Abgleich mit den Objekten des Victoria and Albert Museums waren für die Beantwortung der eingangs gestellten Fragen ausschlaggebend. Doch auch wenn die grundlegenden Fragen an das Objekt geklärt wurden, bleibt die Ungewissheit, die seinen Nutzungskontext und die damit verbundenen Bedeutungszuschreibungen betrifft: Wurde das Objekt tatsächlich im Sinne eines Skapuliers gebraucht? Wie kam es dazu, dass es schließlich als ‚Reliquientasche‘ angekauft worden ist? Wie und warum hat sich der Gebrauchszusammenhang im Laufe der Zeit verändert? Die Beobachtungen der materiellen Untersuchung zu der Beschädigung und dem Ausbleichen des Objektes können an dieser Stelle interessante Indizien liefern und öffnen das Feld für weitere Analysen und neue Thesen.

 

Ein Text von Katharina Kaiser

Das Diözesanmuseum Paderborn zeigt gemeinsam mit dem Stadtmuseum Paderborn noch bis zum 12. Februar die Ausstellung „Museumsstoff – Textilien im Museum“. Zu sehen sind neben dem erforschten Skapulier auch die anderen im Seminar behandelten textilen Objekte sowie die Forschungsergebnisse.

Ein Besuch lohnt sich!

 

Objektdaten und -beschreibung

  • Titel/Inventarnummer: T 032
  • Funktion/Anlass: (kleines) Skapulier, entsprechendes Gegenstück ist nicht mehr vorhanden
  • Datierung: wahrscheinlich 18. Jahrhundert; Erwerb durch das Diözesanmuseum im Jahre 1915
  • Beschreibung: rechteckiges, handgroßes, flaches Textil, bedruckt und bestickt
  • Maße: Länge: 9,4 cm       Breite 7,6 cm
  • Material: Seide
  • Technik: Leinwandbindung; Nähen
  • Farbigkeit: vermutlich ursprünglich roter Stoff, jedoch stark ausgeblichen, Vorderseite jetzt beige, Hinterseite rosa
  • Muster: schwarzer Druck zeigt Kopfstück des Heiligen Anastasius im Viertelprofil mit geschlossenen Augen, er hat eine Schnittverletzung auf der Stirn, drei Blutstropfen werden dargestellt, er trägt eine Kopfbedeckung; Portrait durch eine ovale Umrandung eingefasst, Oval von Blumenranken umgeben; oben zur Rechten und Linken des Kopfes zwei Engel, die im Begriff sind den Heiligen mit einer Bügelkrone zu krönen, unten zur Rechten und Linken zwei Engel, die jeweils mit einer Hand das Oval zu tragen scheinen und in der anderen Hand kleine Skapuliere halten; ganz unten ein Schriftband mit der Inschrift: „S. Anastasius Carm. […]“
  • Verzierung: Druck durch einen einfachen Hexenstich/Kreuzstich eingerahmt, verzwirntes Garn, Seide, vermutlich ursprünglich rot, ausgeblichen, jetzt lachsfarben; Stickerei wiederum eingefasst mit Borte, gelbes und blaues Garn in Leinwandbindung, Borte hohl angenäht
  • Details/Besonderheiten: handschriftliche Notiz auf der Rückseite des Objektes „1075 b“ (alte Inventarnummer)
  • Zustand: Objekt insgesamt stark ausgeblichen; Beschädigung am linken oberen Rand (Stoff scheint herausgerissen worden zu sein), Loch erlaubt Blick auf innenliegenden Stoff, dieser ist braun, leinwandbindig, evtl. aus Wolle

Literatur

  • Arno Schilson und Rupert Berger: Sakramentalien. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl., Bd. 8. Freiburg im Breisgau 1999, Sp. 1452–1455.
  • Michael Kunzler: Liturgische Kleidung für Laiendienste im Gottesdienst. In: Liturgisches Jahrbuch, Jg. 54, 2004, S. 194.
  • Karl Suso Frank: Skapulier. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9. Freiburg (u.a.) 2000, Sp. 653.
  • Ausführlich zu der Tradition des Skapuliertragens im Karmeliterorden und zu dessen heutigen Gebrauch: Gerd Josef Weisensee: Das Kleid vom Himmel. Eine Einführung in die Wissenschaft des Skapuliertragens. Unter besonderer Berücksichtigung des fünffachen Skapuliers und der dazugehörigen fünf Skapulierbruderschaften. Lauerz 2003. (Es ist zu beachten, dass es sich nicht um wissenschaftliche Literatur handelt. Das Buch kann jedoch als Quelle für die Praktiken des Tragens von heilswirksam geglaubten Skapulieren dienen.)
  • Vergleichbare Schriftzüge:
  • Otto Volk: Anastasios der Perser. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1. Freiburg im Breisgau (u.a.) 1993, Sp. 603.

Bildnachweis

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