Skip to content

Text von Waltraud Murauer-Ziebach.


Was passiert mit unseren Erinnerungen, mit unseren Erfahrungen, mit unseren Kenntnissen, wenn wir sie nicht aufschreiben? Bleiben sie erhalten? Was geschieht mit unseren kulturellen Werten, mit unserem Wissen? Hinterlässt das alles Spuren nur im familiären Erinnern oder auch im kollektiven, im gesellschaftlichen Kontext?


Die Ausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ spürt Quellen jahrhundertealten Wissens auf und trägt sie temporär neu zusammen. Hier wird deutlich wie Kultur- und Wissenstransfer, wie Handelsbeziehungen und Migrationsbewegungen seit Jahrtausenden unsere Gesellschaft befruchten, verändern und bis heute prägen. Kulturtransfer – in welcher Form auch immer – ist eine wirkmächtige gesellschaftliche Kraft. Aus diesem Gedanken heraus hat das Team des Diözesanmuseums Paderborn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, gemeinsam mit Kalligraf*innen aus Deutschland, Belgien und den USA zu einem ungewöhnlichen Experiment eingeladen. Unter der Federführung des amerikanisch-belgischen Künstlers und Kalligrafen Brody Neuenschwander fand am 2. November 2024 die Kunstperformance „Tell me, O Muse…“ statt.


Persönliche Odysseen

Acht Erzählende teilten ihre Erlebnisse, ihre persönlichen Geschichten mit acht Schreibenden, Gestaltenden, um sie in neuer Form zu bewahren. Heute in Paderborn lebende Menschen aus Persien, der Türkei und Russland, aus Haiti, Vietnam und den USA, aus Frankreich und den Niederlanden berichteten von ihren persönlichen Odysseen. Der Bitte des Museumsteams und einem im Vorfeld erarbeiteten Fragenkatalog folgend, brachten sie Erlebtes, Gefühltes und Erlittenes zu Papier. Die einen in kurzen Antworten auf die gestellten Fragen, andere schrieben Berichte, Briefe, schickten Gedichte …


Verbindungen schaffen

Auf den verschiedenen Ebenen des Museums stellten die Kalligraf*innen einen Abend lang ihre Arbeitstische auf. Zwischen jahrhundertealten, kunstvoll gestalteten Handschriften, antiken Skulpturen und beeindruckender mittelalterlicher Schatzkunst, sollte etwas Neues entstehen und Verbindungen sichtbar werden. Mit Feder, Pinsel und Tinte näherten sich die Kalligraf*innen den Lebenserinnerungen der Menschen an, die mal mehr, mal weniger freiwillig von ihrer Kultur in eine andere, die unsere, wechselten. Ein intuitiver Prozess in der jeweils eigenen künstlerischen Sprache der Kalligraf*innen. Die Migrant*innen waren eingeladen zuzuschauen. Erst am Ende des Abends traf man sich zum Austausch.

Vergesst nicht, dass wir alle Menschen sind —
Nilgün Özel trifft Kalligrafin Veronique Vandevoorde


„Als wir 1966 aus meiner, mit 800.000 Einwohnern recht großen, Heimatstadt Eskişehir in der Türkei nach Deutschland, ins kleine, sauerländische Marsberg kamen, war das ein Kulturschock“, erzählt Nilgün Özel. „Meine Mutter packte ihre Miniröcke weg und sagte, die kann ich hier nicht tragen, das kennen sie noch nicht. Und ich lernte, dass höfliche junge Mädchen knicksen.“ Nilgün Özel lacht. Sie stammt aus einer Familie, in der Bildung und Kultur eine wichtige Rolle spielen. Der Vater, der in der Türkei nicht studieren konnte, wollte sich in Deutschland diesen Traum erfüllen aber vor allem hat er allen seinen Kindern, Jungen wie Mädchen, eine akademische Ausbildung ermöglicht. Unterdessen lebt Nilgün Özel seit 44 Jahren in Paderborn. Sie findet viele Gemeinsamkeiten zwischen ihrer ehemaligen und ihre heutigen Heimatstadt: die historischen Bedeutung, die vielen Quellen, die Universitäten, … Sie selbst sieht sich in gesellschaftlicher Verantwortung, engagiert sich ehrenamtlich in vielen kulturellen und sozialen Organisationen, sammelt Kunst und fördert junge Künstler*innen.

Für die Kalligrafin Veronique Vandevoorde aus Gent sind Sprache und Schrift nicht nur Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Bindemittel zwischen Menschen. Zwischen ihr und Nilgün Özel ist an diesem Abend eine besondere Verbindung entstanden und sie zeigt sich im kalligrafischen Werk.

Hier bin ich stark geworden…
Nguyet Rodehutskors trifft Kalligrafin Ute Meyer-Koppert

„Was ich von den Deutschen übernommen habe, das ist das Selbstbewusstsein“, sagt Nguyet Rodehutskors, „und das ist gut“. In Vietnam, erzählt sie, werde man zur Bescheidenheit und Zurückhaltung erzogen, hier muss man sich durchsetzen und behaupten können. Sie ist in einem behüteten Zuhause aufgewachsen, zweisprachig, mit Vietnamesisch und Französisch, besuchte eine Privatschule. Kultur und Bildung prägten ihre Familie. Mit 22 hat sie das alles hinter sich gelassen und ihre Heimat alleine verlassen. „Aus politischen Gründen“, erklärt sie, so wie rund zwei Millionen Menschen, die als „Boat People“ nach dem Ende des Vietnamkriegs vor dem kommunistischen Regime flüchteten. In Deutschland konnte Nguyet Rodehutskors ihren Traum verwirklicht, sie ist Dolmetscherin geworden, hat geheiratet und zwei Kinder bekommen. Was sie mitgebracht habe, in die neue Heimat, wollen wir wissen. „Offenheit, Optimismus, Toleranz, Ausdauer und eine leckere, gesunde und vielseitige Küche“, sagt Nguyet und lächelt.


Die deutsche Kalligrafin Ute Meyer-Koppert hat für Nguyet Rodehutskors ein feines, filligran wirkendes Bild geschaffen. „Ich habe einfach das Herz sprechen lassen“, sagt sie. Nguyet ist begeistert: „Das hat Leichtigkeit, aber Schwere ist auch dabei“, sagt sie spontan. „Und, ja, so ist das auch in meinem Leben. Unter den Kommunisten in Vietnam gab es sehr viel Schweres zu erfahren, schreckliche Dinge sind passiert, aber hier, nach der Flucht über den Ozean, konnte ich meine Leichtigkeit wiederfinden.“

Hilfsbereitschaft ist ansteckend …
Malihe Nadjafi trifft Kalligrafin Goedele Soetewey

„Längst sind wir alle Deutsche, aber wir tragen auch weiter persische Kultur in uns“, sagt Malihe Nadjafi über sich und ihre Familie. „Beim persischen Neujahrs- und dem Feuerfest, denke ich oft an das christliche Osterfeuer. Und unser leckeres persisches Essen erfreut auch die deutschen Freunde.“ Mitte der 1980er-Jahre wollte Nadjafis nach Schweden auswandern, doch ein familiärer Schicksalsschlag führte sie nach Paderborn. „In den ersten sechs Monaten habe ich viel geweint“, erzählt Malihe Nadjafi. „Plötzlich war ich in einer kleinen, fremden Stadt, weit weg von der Großstadt Teheran, wo ich so viele Möglichkeiten hatte.“ Die Anfangszeit ist schwierig. Abbas Nadjafi kann zwar sofort arbeiten, übernimmt das Geschäft seines verstorbenen Bruders, doch als er beruflich in den Iran reist, wird er dort mehr als ein Jahr lang festgehalten. Malihe Nadjafi ist damals schwanger. „Ich hatte viel Unterstützung von einer deutschen Familie und auch von der Kirche“, sagt sie. Heute helfen die Nadjafis anderen Einwanderern, vornehmlich – auch wegen der gemeinsamen Sprache – Iranern und Afghanen.

Die belgische Kalligraphin Goedele Soetewey hat Malihes „Wort für Wort-Geschichte“ aufgeschrieben – auf Englisch und auf Deutsch: Zwei große, ganz unterschiedlich wirkende „Schrift-Bilder“ sind entstanden, Dokumente gelebter Geschichte. Als Malihes Mann Abbas, sie sah, schlug er der Kalligrafin vor, er könne eine dritte Version auf Persisch hinzufügen. So entstanden ein anregender Dialog und ein beeindruckendes Ergebnis.

Ich habe erfahren, dass ich mich überall zuhause fühlen kann …
Dominique Charli trifft Kalligrafin Eveline Petersen-Gröger

„Grob 25 Mal bin ich in meinen Leben umgezogen“, erzählt Dominique Charli. Geboren im kleinen französischen Städtchen Meaux ging es zum Studium ins nahegelegene Paris, später quer durch Deutschland, dann auf die Kanareninsel La Palma und schließlich nach Paderborn. „Durch diese Lebensreise habe ich erfahren, dass ich mich überall zuhause fühlen kann, wenn ich in mir ruhe“, erzählt Dominique Charli. Dominiques Ursprungsfamilie hat neben französischen auch polnische Wurzeln, die ihres Mannes liegen in Frankreich, Deutschland, Portugal und Spanien. Ein Melting Pot und gar nicht so ungewöhnlich. Persönliche Odysseen sind seit Jahrtausenden Herausforderung und Chance, Motor für Fortschritt und kulturelle Entwicklung. „Mir ist bewusst, dass ich als Französin privilegiert bin“, sagt Dominique Charli. „Viele neue Bürger aus entfernten Ländern und Kulturen haben es heutzutage nicht so leicht. Die Begegnung mit der Fremde ist aktuell eine große Herausforderung und ich finde alle hiesigen Bestrebungen, kulturelle Brücken durch Veranstaltungen herzustellen, sehr wertvoll.“

Lebensreise und Freiheit das sind zwei der zentralen Worte, die die in Norddeutschland lebende Kalligrafin Eveline Petersen-Gröger hervorgehoben hat. Dominique Charli ist an diesem Abend nicht von ihrer Seite gewichen und hatfasziniert zugeschaut. Die Chemie zwischen den beiden Frauen stimmte gleich.

Liebeserklärung an P.
Tatjana Lemler trifft Kalligrafin Christiane Pucher

„Es war eine „Zwangsheirat“ im weitesten Sinne, die sich später zur einer der größten Lieben meines Lebens entwickelt hat.“ Das ist einer der ersten Sätze in Tatjana Lemlers ungewöhnlichem Text. Auf zwei Seiten – halb (Liebes-)Brief, halb Essay – zeigt die gebürtige Russin aus Kasachstan ihre Gefühle, lässt in „P.“ (= Paderborn) Erlebtes und Erlittenes auch mal mit feiner Ironie aufblitzen. Mit 16 Jahren, 1979, verlässt sie Russland, kommt nach Paderborn, erlernt die fremde Sprache und schafft den Sprung aufs Gymnasium. Nach dem Fachabitur verlässt sie P., doch sie hat Sehnsucht, Heimweh nach der alten, neuen Heimatstadt. In poetischen Worten beschreibt Tatjana Lemler all das, was sie an Paderborn liebt: Mauerfragmente die von früher erzählen, das viele Wasser, den Zauber geschichtsträchtiger Orte, den Dom, die Chöre, denen sie dort zuhören kann, den Trubel der Libori-Woche … „In diesen ca. 20 Jahren habe ich dich kennen und lieben gelernt, und das war überhaupt nicht schwer“, heißt es am Ende ihrer Leibeserklärung an Paderborn.

Aus dem poetischen Text, der auf zwei profanen Druckseiten daher kommt, machte die in Paderborn lebende Kalligrafin Christiane Pucher mit ihrer „Kunst des Schreibens“ ein einzigartiges und wunderschönes Dokument der Erinnerung.

Freundlichkeit kostet nichts und bringt dich immer weiter…
Christelle Lindhauer trifft Kalligrafin Sigrid Artmann

„Ich bin ein karibisches Mädchen“, sagt Christelle Lindhauer und erzählt, dass es für sie nicht so einfach war, die deutsche Pünktlichkeit und Gründlichkeit zu erlernen. Mit 16 Jahren ist sie hergekommen. In ihrer Heimat Haiti war sie nicht mehr sicher. „In meiner Kindheit war es ein Traum dort zu leben“, erzählt sie. Ihre Familie hat deutsche Wurzel, und als sich die Lebenssituation auf der Karibikinsel verschlechterte, wurde Christelle zur Tante nach München geschickt. „Da habe ich mich lange wohl und heimisch gefühlt“, sagt sie und fügt hinzu: „Jetzt fühle ich mich hier zuhause aber ich bin immer noch dabei, diese kleine Stadt, die mir jeden Tag mehr ans Herz wächst, zu entdecken und freue mich auf all die Überraschungen, die auf mich warten.“ Christelle sagt von sich selbst, dass sie sowohl die deutsche Gründlichkeit als auch die karibische Gelassenheit verkörpert und ergänzt: „Ich erziehe meine Kinder nach dem Motto „Freundlichkeit kostet nichts und bringt dich immer weiter.“

Die Schriftkunst der aus dem Süden Deutschlands stammenden Kalligrafin Sigrid Artmanns ist ungezähmt, ein bisschen unberechenbar und fröhlich  – das passt hier sehr gut. Dem „karibische Mädchen“ mit dem „Sonnenscheingemüt“ und der sprichwörtlichen Gelassenheit hat sie in roten Lettern einen besonderen Platz in ihrer Kalligrafie reserviert.

Staunen über Kirche, Kultur und Kirmes
Kalligrafin Joke Boudens bringt Wicher Broers Geschichte zu Papier

Seit mehr als 20 Jahren lebt der Niederländer Wicher Broer in Paderborn, seit 10 Jahren ist er als Stadtführer aktiv. Was war hier fremd für ihn? Was hat ihn erstaunt? In seiner Geburtsstadt Enschede, spielte die Textilindustrie eine große Rolle. „Sie war dadurch stark politisch linksorientiert. Religion hatte in dieser Gesellschaft keinen großen Stellenwert“, schreibt er und ergänzt: „Weil ich u.a. pädagogisch tätig war, kam ich automatisch in Kontakt mit katholischen Trägern. Dadurch beobachtete ich kirchliche Einflüsse auf viele Bereiche dieser Gesellschaft. Besonders prägte mich das große jährliche Liborifest im Sommer.“ Der Umgang mit den Reliquien, die durch die Stadt getragen werden, während nebenan die Menschen auf der Kirmes feiern, aber auch die Kultur der Schützenvereine riefen bei Wicher Broer großes Erstaunen hervor. Doch durch seine Tätigkeit als Gästeführer habe er die vor allem den Dom mit all seinen vielen kulturellen Aspekten lieben gelernt.

Die Kalligrafin Joke Boudens aus Brügge sagt über ihre Arbeit: „Lange Zeit konnte ich mich nicht zwischen Lettering und Illustration entscheiden, bis ich schließlich feststellte, dass ich beides gut miteinander kombinieren kann.“ Und das sieht man auch bei ihrer Arbeit für Wicher Broer, auf der sie zentral – zwischen fast architektonisch anmutenden Schriftblöcken – den Turm des Paderborner Doms platziert hat.

Ich habe hier meinen Platz gefunden…
Jennifer Mc Dormand trifft den Kalligrafen Brody Neuenschwander

Kann ich als Amerikanerin auch auf Deutsch witzig sein? Kann ich als Au Pair europäische Kinder zum Lachen bringen? Mit einem One-Way-Ticket ab Chicago Airport startete die damals 23-jährige Jennifer McDormand ihre Reise ins Ungewisse. Über Österreich geht es ins bayrische Bamberg, Jahre später schließlich nach Paderborn. Dunkel Zeiten habe sie erlebt, berichtet Jennifer, die sich lange sprachlich und kulturell nicht wirklich verstanden und gesehen fühlt. „Ich sehnte mich danach, Teil von irgendetwas zu sein“, erzählt sie. Es ist die Paderborner Familie ihres späteren Ehemannes, die ihr die lange vermisste Geborgenheit und Akzeptanz geben kann. „Ich werde immer einen besonderen Platz in meinem Herzen für andere ‚Ausländer‘ haben“, schreibt Jennifer McDormand in ihrem Text. „Wenn wir uns treffen, werden wir intuitiv ein kleines Stück voneinander verstehen. Wir werden ein wissendes Lächeln teilen, ein Nicken oder auch nur einen flüchtigen Blick. Denn wir wissen, was es bedeutet, ein ‚Ausländer‘ zu sein.“

Der Kalligraf und Künstler Brody Neuenschwander hat Jennifers Geschichte in großen Bögen, mit vielen Farben und ganz unterschiedlichen Lettern festgehalten. „Als Künstler sind es die Sprache und die Probleme von Sprache, die mich interessieren“, sagt Brody Neuenschwanger. „Schreiben oder Textkunst sind für mich Möglichkeiten, die Spannung zwischen dem, was wir zu wissen glauben, und dem, was wir tatsächlich wissen, zu untersuchen oder aufzuzeigen. Und natürlich ist es auch ein Prozess der Kommunikation.“

Der Gesang der Muse geht weiter

Für alle Teilnehmer*innen war es ein inspirierender und bewegender Abend und es wurden Kontaktdaten ausgetauscht, um zukünftig in Verbindung zu bleiben.

Alle Fotos: ©Harald Morsch

An den Anfang scrollen