- Westfalen (?), 1. Viertel 15. Jahrhundert
- Baumberger Sandstein mit Fassungsresten
- Gaukirche St. Ulrich / St. Liborius, Paderborn, Inv.-Nr. SK 72
In einer zarten, anrührenden Szene stehen Maria und ihre Mutter Anna einander zugewandt und halten zwischen sich ein Buch, die Heilige Schrift. Anna weist mit ihrem Finger auf eine bestimmte Stelle der aufgeschlagenen Seite; ihre Tochter führt den Griffel folgsam zum ihr gewiesenen Text, um ihn zu lesen. Da die mittelalterliche Farbfassung nur teilweise erhalten ist, ist der Text nicht mehr lesbar. Ein Vergleich mit einem Gemälde zu diesem Thema verweist auf Psalm 45, 11–12: Höre Tochter, siehe und neige dein Ohr. (…) Der König verlangt nach deiner Schönheit. So als wolle Maria diesem Aufruf folgen, neigt sie ihr – gemessen an Auge und Mund – größer dargestelltes Ohr Richtung Buch und richtet ihren Blick – wie ihre Mutter – fest auf das Wort Gottes.
Die Unterweisung Mariens im Lesen ist weder in der Annenlegende noch in Beschreibungen zur Kindheitsgeschichte Mariens überliefert. Das Bildthema hat sich vielmehr aus dem Diskurs um die unbefleckte Empfängnis der Mutter Jesu entwickelt: Durch die Darstellung alltäglicher Szenen aus dem Leben seiner Vorfahren wird die menschliche Natur Christi betont.
Das Bildwerk wurde für das Kloster der Zisterzienserinnen in Paderborn, das an der Gaukirche angesiedelt war, geschaffen, einem Orden, der sich durch eine ausgeprägte Marienverehrung auszeichnet. Es bleibt offen, ob die Skulptur für den 1427 errichteten neuen Altar zu Ehren der hl. Mutter Anna bestimmt war oder als Andachtsbild für die Nonnen diente.