Einen wunderschönen guten Tag. Ich möchte mich gerne einmal vorstellen: Mein Name ist Adriana Papadopoulou. Ich studiere Germanistische Literaturwissenschaften im Einfach-Master an der Universität Paderborn und darf mein außeruniversitäres Praktikum im Paderborner Diözesanmuseum absolvieren. Der Zusammenarbeit des Museums mit der Universität habe ich es zu verdanken, dass ich in der diesjährigen Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” hinter die Kulissen blicken darf. So begleite ich nun auch die öffentliche Reihe ,,Dialoge im Museum” mit Blogbeiträgen, in denen ich die gemeinsamen Abende Revue passieren lasse.
Am 12. Dezember präsentierten die Studierenden der Uni Paderborn den Besuchenden das Resultat ihrer Auseinandersetzung mit der Odysseus-Rezeption. Seit Anfang Oktober hatten sie im Gruppenverband an den Konzepten gearbeitet. Aus den Projektgruppen waren nun vier Stationen entstanden, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten (Literatur, Film, Musical und Plastik/Selfie Point) den dritten Gesprächsabend der „Dialoge im Museum“ bildeten.
Die Studierenden waren sehr wohl darauf bedacht, den Besuchenden nicht nur ihre Ergebnisse darzulegen, sondern sie auch in eine Reflexions- und Mitmachrunde einzubinden. Ihnen sollte erst gar nicht die Gelegenheit zur Passivität eingeräumt werden.
Rekapitulieren wir dementsprechend gemeinsam einen abwechslungsreichen Abend.
Zu den vier Stationen
In der ersten Station blickten die Studierenden differenzierend auf neuhochdeutsche Übersetzungen der homerischen ,,Ilias” in Altgriechisch. Es fiel auf, dass die formale und inhaltliche Nähe der neuhochdeutschen Übersetzung vom Verlag und dessen Übersetzer*innen abhänge. Beispielsweise wurde auf die gravierenden Unterschiede sowohl im Hinblick auf sprachliche Semantik als auch in der inhaltlichen Erzählstruktur deutlich gemacht. Nicht ganz unbedeutend war daher, dass plötzlich Figuren in der Übersetzung verschwanden und weibliche Figuren mit negativ konnotierten Bezeichnungen ausgewiesen wurden. Obwohl alle neuhochdeutschen Übersetzungen das Ziel verfolgt haben mögen, ,,die” eine Textvariante zu produzieren, müssen sie dennoch als mögliche Interpretationsversuche eingestuft werden.
Schon auf dem Weg zur nächsten Station wurden die Besucher von Musik und Gesang in Empfang genommen. Ein cleverer Kniff der Musical-Gruppe, das Interesse an ihrem Projekt zu wecken.
Die zweite Projektgruppe hatte sich mit Jorge Rivera-Herrans’ englischsprachigen Musical ,,EPIC” befasst, welches online vollständig zugänglich ist und wegen seiner wachsenden Community in naher Zukunft uraufgeführt werden soll. In einer neuen Adaption macht Rivera-Herrans’ die Erzählung um Odysseus auch für das jüngere Publikum attraktiv. Spannend ist, dass er nicht nur die Musik und die Texte für jede einzelne Saga (Kapitel) geschrieben hat, sondern auch die Odysseus-Figur vertont. Er versucht keine flache Heldenfigur abzubilden, sondern zeigt in Form von Dichotomien die Komplexität von (menschlichen) Handlungen und Entscheidungen. Als Beispiel wurde den Besuchenden das Stück ,,Monster” aus ,,The Underworld Saga” vorgespielt.
Darin stellt der vertonte Odysseus die Schuldfrage für seine Lebensentscheidungen und die Konsequenzen für seine Umwelt dar. Er fragt in Verzweiflung: ,,What if I am the Monster?”.
Die Studierenden gaben die Frage, inwiefern Odysseus in der Adaption nach Rivera-Herrans als Mann oder als Monster eingestuft werden könnte, an die Besuchenden weiter. Ein Plakat und rote Aufkleber wurden dafür vorbereitet.
Wie hätten Sie sich positioniert und warum?
Hier ist das Ergebnis des Abends:
Die dritte Station bildete das Figurenpaar ,,Odysseus und Skylla”, welches die Projektgruppe in Anlehnung an die karolingische Wandmalerei des Corveyer Klosters entworfen hatte. Das einzige im Mittelalter überlieferte Bild der Geschichte sollte in Form von zwei Pappaufstellern für die heutige Zeit greifbar gemacht werden. Entstanden war ein Selfie Point, der – im Gegensatz zu seinem gemalten Vorbild – dazu einladen sollte, in Interaktion zu treten: Odysseus wurde für einen Moment im Raum des Museums plastisch erlebbar. Es wurde sehr großen Wert darauf gelegt, dass die Besuchenden nicht dem Staunen verfallen, sondern in Interaktion mit den Figuren treten sollten. Damit sollte der Installation Leben eingehaucht und die aktive Neugier angeregt werden.
Die Besuchenden hatten durch die Figuren die Möglichkeit, aktiv an der Erinnerungs- und Rezeptionskultur teilzunehmen. Durch das Fotografieren mit den Figuren wurden sie spielerisch ein Teil der Odysseus-Erzählung. Jede Person konnte ihre eigene Geschichte von Odysseus und Skylla erzählen. Ein spannender Nebeneffekt war die veränderte Dynamik im Ausstellungsraum, da die Besuchenden jetzt ausnahmsweise Objekte anfassen durften.
(Unter uns: Ich sah vor Beginn des Abends, wie Odysseus’ muskulöser Körper mit einer Fusselbürste bearbeitet wurde. Auch bei der Skylla mussten erst noch einige Körperpartien zurechtgerückt werden. Näher kann man antiken Figuren wirklich nicht kommen. Homer hätte das bestimmt nie zu träumen gewagt. 😉)
In vielerlei Hinsicht sind demnach einzelne Aspekte und Erzähldiskurse in diesem Figurenpaar ergänzt worden. Der Phantasie sind ja bekanntermaßen keine Grenzen gesetzt. Die Interaktion mit den lebensgroßen Aufstellern sollte den Besuchenden den antiken Erzählstoff leichter zugänglich machen. Der performative Akt lässt sie so an der Rezeption des Odysseus-Erzählstoffes mitschreiben. Der museale Raum wird dadurch zum Erfahrungsraum, in dem spannende Erinnerungen neu kreiert werden können. Jede Person kann sich für die eigene Inszenierung dabei beispielsweise fragen: Versuche ich die Figurengruppe als mythologischer Kämpfer*in zu ergänzen? Odysseus kann vielleicht eine helfende Hand gebrauchen. Oder stelle ich mich vielleicht doch auf die Seite der Skylla?
Odysseus und Skylla laden zu vielen Möglichkeiten der interaktiven Neuinterpretationen ein, und zwar ganz unabhängig von der antiken Text- oder mittelalterlichen Bildvorlage.
Jede*r, der mit den Figuren interagiert, konnte darüber hinaus am Ende des Tages ein personalisiertes Stück des Corveyer Weltkulturerbes mit nach Hause nehmen (Foto). Die kulturelle Umdeutung der antiken Stoffvorlage und der mittelalterlichen Rezeption wird dadurch mit jeder Person fortgeschrieben. Im Kern versuchte das Figurenpaar auf eine andere Weise, die derzeitige Sonderausstellung ,,Corvey und das Erbe der Antike” in sich zu spiegeln, die sich u.a. mit der kulturellen Aneignung auseinandersetzt (Vgl. Blogbeitrag vom 14.11.24).
Dies verdeutlicht die Fluidität von Kulturprozessen, die nicht allein von den Exponaten abhängig gemacht werden können, sondern gleichwohl von jeder /jedem einzelnen mitgetragen werden. Also: Welchen Teil von Kultur und Rezeption wollen wir – können wir, kannst du und ich – weitertragen?
Die letzte Gruppe befasste sich mit dem Heldenbild in dem Film ,,Die Abenteuer des Odysseus” (1997). Sie zeigte die Begegnung der Titelfigur und ihrer Mannschaft mit den Seemonstern Skylla und Charybdis in einer Meerenge. Die Bedrohung durch das erste weibliche Monster zeigte sich in der herrschenden Stille, während die Besatzung ihre Höhle durchquerte sowie in den angsterfüllten Gesichtern der Männer. Von der Skylla waren nur Tentakel zu erkennen. Die eingeschränkte Sichtbarkeit in der Höhle und die plötzlichen Geräusche von sterbenden Männern und einer (unschuldigen) Ziege, boten in dieser filmischen Adaption keine Grundlage für das Eingreifen eines mutigen Odysseus. Statt dem klassischen Heldenbild zu entsprechen und das Leben seiner Mannschaft zu verteidigen, zieht er sich zurück und lässt seine Männer nacheinander von den beiden Meeresungeheuern verschlingen. Odysseus handelt nicht heldenhaft, obwohl die Zuschauer*innen/Besuchenden dies von ihm erwartet hätten. Der Film bricht also mit den gängigen Vorstellungen der Rezipienten von einem heldenhaften Odysseus. Im Museum diskutierten die Besuchenden anschließend, ob der Verlust von einigen Männern nicht als Kollateralschaden bewertet werden könnte, weil durch den Tod von einigen wenigen Personen eine größere Menschenmenge gerettet werden konnte… Unabhängig von der eigenen Positionierung ist es gut, dass die Kunst den Freiraum bietet – abgelöst von kulturellen und sozialen Wertkategorien – an Gedankenexperimente verschiedener Form (Literatur, Musik, Plastik, Film), teilzunehmen.
An dieser Stelle möchte ich mich bei den Studierenden der Universität Paderborn für die Organisation eines vielfältigen Abends bedanken. Die Gesprächs- und Diskussionsbereitschaft der Besuchenden war sehr anregend. Daher auch einen herzlichen Dank an die Teilnehmenden für die vielen inhaltlichen Impulse.